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Lililja, die Elfe, war die Oberste Hüterin der Natur und der Magie in Vanavistaria.
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„Ist es nicht ein bezaubernder Abend, Rafyndor?“, fragte Lililja mit einer sanften Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern im aufkommenden Abendwind. Sie atmete tief die Luft ein, die nach dem warmen Tag schwer von Erde und Blüten duftete und zugleich den Einzug der nächtlichen Kühle ankündigte. Der Himmel über ihnen trug noch das zarte Blau der Dämmerung, in dem die ersten Sterne wie matte Splitter schimmerten.
Rafyndor, der in stillem Einklang mit der Elfe neben ihr einherschritt, erwiderte ihren Blick mit einem milden Lächeln.
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Er liebte diese Abendgänge mit ihr, Momente, in denen die Hektik des Tages hinter ihnen verblasste und die Stimmen der Natur alles durchdrangen. Ihre Verbundenheit zur Welt der Pflanzen und Tiere war es, die sie einte, auch wenn sie doch so verschieden waren.
Lililja, kaum mehr als ein Vierteljahrhundert zählend, trug mit bemerkenswerter Würde den Titel der Obersten Hüterin der Natur und Magie. Diese Stellung, von der Magiegemeinschaft Vanavistarias mit Bedacht vergeben, hatte sie durch ihr außergewöhnliches Gespür für die geheimen Ströme des Lebens erworben, ein Talent, das bereits in ihrer Kindheit Meister Lehakonos, den Hohenmagier, auf sie aufmerksam gemacht hatte.
Mit ihrem goldenen Haar, das wie flüssiges Licht schimmerte, und den unergründlich blauen Augen war sie von einer Aura umgeben, die ebenso fragil wie eindrucksvoll war. Ihre Wahl in dieses hohe Amt hatte beinahe einstimmig stattgefunden − nur Jadoruc, der grimmige Schriftgelehrte der Dunklen Magie, hatte sein Missfallen kundgetan. Doch dies war wenig verwunderlich; als stolzer Vykati hegte er eine tiefe Skepsis gegenüber allen anderen magischen Völkern, und eine so junge Elfe in einer solch bedeutsamen Rolle war für ihn ein Affront.
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Rafyndor hingegen, der große, athletisch gebaute Waldgeist mit seiner sanft grünlichen Haut, den wilden, moosfarbenen Locken und dem zarten Bart aus Flechten, hatte keinerlei Opposition erfahren, als er zum Obersten Waldhüter ernannt wurde. Seine Fähigkeit, mit den Tieren des Waldes zu sprechen, und seine hingebungsvolle Pflege der Wälder und Wiesen machten ihn unangefochten zum Ideal für diese Aufgabe. Selbst Jadoruc, der Waldgeister gewöhnlich gering schätzte, hatte nichts an seiner Wahl auszusetzen.
Die beiden waren ein ungleiches Paar − Rafyndor überragte Lililja, die ihm nur bis zur Schulter reichte − doch ihre Seelen schienen im Einklang zu sein.
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Rafyndor, der Waldgeist, war der Oberste Waldhüter Vanavistarias.
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Seit ihrer Kindheit verband sie eine tiefe Freundschaft, die sich in gemeinsamen Aufgaben und Erlebnissen vertiefte. Nach einem langen Tag, erfüllt von Pflichten und Sorgen, suchten sie Entspannung auf diesen Abendspaziergängen durch die lichtdurchfluteten Wälder und Wiesen des Zentrums der Hellen Magie.
Vanavistarias Hauptstadt, das Herz dieser Welt, war ein Meisterwerk harmonischer Baukunst. Die wenigen Gebäude, von alten Bäumen umarmt, schienen aus der Landschaft herausgewachsen zu sein, als hätten sie nie etwas anderes gekannt. Wege wanden sich zwischen Bäumen hindurch, gesäumt von Blumen und Farnen, während die Schatten der Dämmerung das Laub in immer dunklere Grüntöne tauchten.
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Während des Abendspaziergangs vernahmen Lililja und Rafyndor plötzlich ein kaum hörbares Summen im Säuseln des Windes.
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Während sie so schlenderten, hielt Lililja plötzlich inne. Ein kaum hörbares Summen, so zart wie ein erster Hauch von Morgengrauen, mischte sich in das Rascheln der Blätter.
Rafyndor hielt ebenfalls an, und seine tiefgrünen Augen weiteten sich, als er lauschte.
Das Summen wuchs zu einer Melodie, die aus dem Wind selbst zu kommen schien, aus der Erde, aus den Wipfeln der Bäume. Selbst die Blumen schienen sich im Takt zu wiegen.
„Was ist das?“, fragte Rafyndor leise, fast ehrfürchtig.
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„Ich weiß es nicht“, murmelte Lililja, und ein seltener Ausdruck von Staunen erhellte ihr Gesicht. „Aber es ist wunderschön.“
Ihre Blicke schweiften über die Landschaft. Die Farben der Blumen wurden intensiver, die Bewegungen des klaren Baches schienen sich dem Rhythmus anzupassen.
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Glimmkidos, kleine, leuchtende Wesen, die sonst nur vereinzelt in den Büschen entlang der Wege saßen, erhellten nun in ungeahnter Fülle den dämmernden Wald.
„Sie tanzen“, flüsterte Rafyndor und deutete auf die flimmernden Lichtgestalten. „Sie tanzen zur Melodie.“
Eine Zeit lang blieben sie stehen, regungslos, während die fremde Magie sie umfing. Sie spürten, wie die Melodie nicht nur die Welt um sie her, sondern auch ihre innersten Seelen erfüllte, ihren Herzschlag leitete, ihre Gedanken umschloss. Die Harmonie war vollkommen, wie ein flüchtiger Traum, der das Herz berührt.
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Unmengen von Glimmkidos schienen zur Melodie zu tanzen.
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„Wir müssen zu Meister Lehakonos“, sagte Lililja schließlich leise. „Er wird wissen, was dies bedeutet.“
Rafyndor nickte, auch wenn er nur ungern diesen Ort der flüchtigen Wunderdinge verlassen wollte. Doch die Melodie blieb bei ihnen, eingewoben in ihr Innerstes, ein unhörbares Lied, das ihre Herzen erwärmte und ihre Geister beruhigte.
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Meister Lehakonos′ Anwesen lag auf einer Lichtung im Wald des Zentrums der Hellen Magie.
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Über verschlungene Pfade erreichten sie schließlich das Anwesen des Hohenmagiers.
Der uralte Bau auf der Waldeslichtung war ein Hort magischen Wissens, in dessen Mauern die Weisheit unzähliger Äonen gesammelt war.
Nanistra, die alte Vykati-Hausmagd, öffnete die schwere Tür, als Rafyndor angeklopft hatte. Ihr graues Haar hing wirr herab, und ihre scharfen Augen musterten die Ankömmlinge, bis sie sie erkannte. Murmelnd ließ sie sie eintreten und führte sie durch die hallenden Gänge zum Studierzimmer des Meisters.
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„Zwei Gäste“, verkündete sie kurz angebunden, bevor sie Lililja und Rafyndor ins Zimmer ließ und sich wieder zurückzog.
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Nanistra, eine Vykati, war die Hausmagd des Hohenmagiers von Vanavistaria.
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