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Im dämmrigen Schein zahlreicher Kerzen saß Meister Lehakonos an einem wuchtigen, mit Zeit und Wissen überladenen Schreibtisch. Pergamente, deren Ränder das Alter der Jahrhunderte verrieten, lagen dort verstreut neben schweren, dicken Büchern, deren Einbände vom Gebrauch abgenutzt waren. Die Wände seines Studierzimmers wurden von deckenhohen Regalen eingenommen, die von Artefakten, Büchern und vergilbten Schriftrollen nahezu überquollen. Selbst der hölzerne Boden war zu einer Arena aus verstreuten Manuskripten geworden, und die Fenster, die den Blick auf den abendlichen Wald des Zentrums der Hellen Magie freigaben, wurden teilweise von aufgetürmten Büchern verdeckt.
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Meister Lehakonos, der Hohenmagier Vanavistarias gehörte dem magischen Volk der Elfen an.
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Als Lililja und Rafyndor eintraten, erhob der alte Elf den Kopf, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Die beiden Zauberwesen waren ihm vertraut wie eigene Kinder. Mit eigenen Augen hatte er erlebt, wie sich aus ihrer ersten Begegnung eine tiefe, unerschütterliche Freundschaft entfaltet hatte. Ihre Verbundenheit war von Beginn an bemerkenswert gewesen, ein Band, das sich mit der Zeit nur weiter festigte und sie untrennbar miteinander verschmolzen hatte.
Meister Lehakonos ließ seine Gedanken zurückwandern, zurück zu jenem Moment, als Lililja und Rafyndor einander zum ersten Mal begegnet waren − ein Augenblick, der wie ein zarter Keimling jenes innigen Miteinanders erschien, das in den Jahren darauf zu einer unerschütterlichen Einheit heranwachsen sollte.
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Als Kind liebte es Lililja durch den Wald zu streifen und an den Bäumen zu lauschen.
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Als Kind war Lililja ein wahrer Wirbelwind gewesen, der mit unerschöpflicher Neugier und grenzenloser Begeisterung durch die Wälder zog. Stundenlang konnte sie sich darin verlieren, den stillen Bäumen zu lauschen, als wollten sie ihr Geheimnisse zuflüstern, und den feinen Vibrationen des Erdreichs nachzuspüren, die sie wie ein verborgenes Flüstern empfand. Nicht selten erzählte sie Meister Lehakonos und den anderen älteren Zauberwesen von Gesängen und Gesprächen, die sie angeblich zwischen den Bäumen vernommen hatte − Geschichten, die sie mit leuchtenden Augen vortrug, als handelte es sich um Offenbarungen.
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Der alte Lehrmeister, ein Mann von tiefer Weisheit und unerschütterlichem Verstand, kannte die wahre Natur der Bäume nur zu gut. Er wusste, dass sie ihr ganzes Dasein in einem Zustand des Schlummerns verharrten, sofern sie nicht durch einen gezielten Zauberspruch aus ihrer Stille gerissen wurden. In all den uralten Schriften, die er in seinem Leben studiert hatte, fand sich jedoch kein Hinweis darauf, dass Bäume zu träumen vermochten. Die vermeintlichen Stimmen und Lieder, die Lililja so oft beschrieb, mussten daher, so schloss er, den lebhaften Auswüchsen ihrer kindlichen Fantasie entsprungen sein − ein bezaubernder Irrtum, geboren aus einem Herzen, das so tief mit der Natur verwoben war, dass es selbst in der Stille Leben und Klang zu erkennen glaubte.
Eines Tages berichtete Lililja voller Aufregung von Hilferufen, die sie an einer ehrwürdigen Jada-Eiche vernommen haben wollte. Der alte Lehrmeister hatte ihre Worte zunächst als eine weitere Ausgeburt ihrer lebhaften Einbildung abgetan. Doch als sie, vom Unverständnis tief getroffen, in Tränen ausbrach, hatte er ihrem Drängen nachgegeben. Es war untypisch für die kleine Elfe, in solcher Verzweiflung zu weinen, was ihn veranlasste, ihre Dringlichkeit ernst zu nehmen.
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Lililja führte ihn zu einer gewaltigen, alten Jada-Eiche. Dort legten sie beide ihre Ohren an den Stamm, doch während der alte Lehrmeister nur die Stille des Baumes wahrnahm, bestand Lililja darauf, dass sie die Hilferufe der Stimmen weiterhin hören konnte.
Gerade als Meister Lehakonos ihr erklären wollte, dass ihre Fantasie sie getäuscht habe, drangen leise, gequälte Stimmen an sein eigenes Ohr − Kinderstimmen, die in Verzweiflung miteinander flüsterten.
Ein Frösteln durchlief den alten Magier. Die Stimmen waren wahrhaftig, und sie schienen tief aus dem Innersten des Baumes zu kommen.
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Als Kind hatte Lililja an einer Jada-Eiche Hilferufe vernommen und Meister Lehakonos darauf aufmerksam gemacht.
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Mit ernster Miene bat er Lililja, sich ruhig auf einen umgefallenen Baumstamm zu setzen und den uralten Baum nicht zu erschrecken, während er seine Zauberkunst wirkte. Sie gehorchte, ohne zu murren − eine seltene Ernsthaftigkeit in ihrem sonst so lebhaften Wesen.
Mit einer Handfläche auf den rauen Stamm gelegt und der Stirn dagegengepresst, rief der Magier das Zauberwort: „Okajag!“ Doch nichts geschah. Verwirrt wiederholte er den Weckruf, doch erneut blieb der Baum stumm. Seine Sorge wuchs, als er erkannte, dass ein dunkler Fluch die Seele der Jada-Eiche gefangen hielt. Es bedurfte stärkerer Magie, um diesen Bann zu lösen.
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Meister Lehakonos musste alle Magie aufwenden, die ihm möglich war, um die Jada-Eiche aufzuwecken.
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Der alte Lehrmeister begann, tief in den Kern des Baumes zu dringen, während er seine eigene Essenz mit der des Waldes verband.
„Sapadrosja! Okajag!“, rief er mit fester Stimme, die sich wie ein leiser Donner durch die Rinde des Baumes fraß. Der Baum zitterte, und ein feiner Hauch von Leben kehrte in seinen Wurzeln zurück.
Meister Lehakonos wiederholte den Ruf: „Sapadrosja! Okajag!“ Doch der Fluch war zäh und wehrte sich.
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Ein drittes Mal sprach Meister Lehakonos die Worte: „Sapadrosja! Okajag!“ Schließlich durchbrach die alte Jada-Eiche die Fesseln des Fluchs und erwachte aus ihrem erzwungenen Schlummer.
Erschöpft lehnte der Hohenmagier sich zurück, ließ seine Hände sinken und spürte das trockene Laub unter sich. Doch seine Aufgabe war noch nicht vollbracht. Er sprach zu der mächtigen Eiche, die ihre Krone kaum merklich neigte, um ihre Dankbarkeit auszudrücken.
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„Ehrwürdige Jada-Eiche“, begann Meister Lehakonos mit rauer Stimme, „ein dunkler Magier hat Euch in seiner Schändlichkeit verletzt. Kinderseelen, unschuldig und rein, hat er in Euer Innerstes gebannt. Ich bitte Euch, mir zu gestatten, dieses Unrecht wiedergutzumachen.“
Der Baum zitterte vor Entrüstung, seine Blätter flüsterten ein Echo der Verärgerung, doch schließlich nickte er still.
Meister Lehakonos legte erneut seine Hände auf den Stamm und rief: „Jovandara!“
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Die Jada-Eiche gab durch eine kaum wahrnehmbare Neigung der Baumkrone zu erkennen, dass sie Meister Lehakonos verstanden hatte.
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Das Innere des Baumes offenbarte sich ihm langsam: Ringe lösten sich auf, bis der 333. Jahresring die Schrecken des Fluchs enthüllte − zwei kleine Wesen, die sich in ängstlicher Umarmung aneinanderklammerten.
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Mit Magie befreite Meister Lehakonos damals die Waldgeister-Kinder aus der Jada-Eiche.
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Mit den Worten „Muktandara!“ öffnete der Magier einen Durchgang, durch den die Kinder ins Freie traten. Das Licht des Waldes umspielte ihre zarten Gestalten, und Meister Lehakonos fühlte eine Welle der Erleichterung.
Mit einem letzten Zauber, „Runavavi! Okajus!“, heilte er die Jada-Eiche und versetzte sie in friedlichen Schlaf zurück.
Die Erinnerung an dieses Ereignis erfüllte den alten Meister mit Demut.
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Ein wenig abseits des mächtigen Baumes hockte sich Meister Lehakonos auf dem weichen Waldboden, um den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen.
Mit prüfendem Blick musterte er die beiden kleinen Gestalten, die er eben aus ihrem hölzernen Gefängnis befreit hatte. An ihrer sanft grünen Haut und den lebhaft grünen Haaren erkannte er sie als Waldgeister − ein Mädchen und einen Jungen. Das Mädchen stellte sich als Pranicara vor und nannte den Jungen ihren Cousin Rafyndor.
Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des alten Lehrmeisters, als er sich daran erinnerte, wie rasch Pranicara sich damals von dem Schrecken des Eingesperrtseins erholte. Im Gegensatz zu ihrem Cousin Rafyndor, der noch immer verwirrt und von der Erfahrung gezeichnet wirkte, hatte sie bereits wieder keckes Selbstbewusstsein ausgestrahlt.
Nicht weit entfernt stand Lililja und beobachtete die Szene mit einer stillen Aufmerksamkeit, die dem alten Magier nicht entging.
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Mit seiner ruhigen, wohlklingenden Stimme wandte sich Meister Lehakonos an die beiden Waldgeister-Kinder: „Wie seid ihr nur in den Stamm der Jada-Eiche geraten?“
Pranicara, die trotz der wohl schrecklichen Erfahrung schnell wieder zu ihrer Lebhaftigkeit zurückgefunden hatte, lachte leise und erklärte unbefangen: „Wir haben Grimbart einen Streich gespielt. Anscheinend hat er das nicht so gut verkraftet.“
„Grimbart?“ Der alte Lehrmeister zog fragend eine Augenbraue hoch, während er angestrengt in seinem Gedächtnis kramte. „Wer ist das?“
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Die kleine Pranicara erzählte damals, wie sie in den Baum geraten waren.
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Mit einem Schulterzucken begann Pranicara sprudelnd zu erzählen: „Wir wissen seinen richtigen Namen nicht. Wir nennen ihn immer nur Grimbart, weil er so grimmig schaut. Er ist ein alter Goblin, der hinter allem her ist, was glitzert. Rafyndor und ich haben aus Holz ein paar Juwelen geschnitzt, sie mit glänzender Farbe bemalt und eine Spur gelegt, die zu einer alten Truhe führte. Dann haben wir einen kleinen Vasta-Sperling gefangen und Rafyndor hat ihn gefragt, ob er uns bei dem Streich helfen würde. Der Sperling war einverstanden, also haben wir ihn vorsichtig in die Truhe gesetzt und mit Laub bedeckt. Als Grimbart schließlich die Truhe öffnete, in der Hoffnung, noch mehr ‚Juwelen‘ zu finden, ist ihm der Sperling direkt ins Gesicht geflogen und davongeflattert. Oh, wie hat Grimbart geschimpft! Rafyndor und ich haben uns hinter einem Busch versteckt, um zu sehen, wie er reagiert. Aber leider hat er uns entdeckt − und zur Strafe in die Jada-Eiche gesperrt.“
Während Pranicaras Bericht erhärtete sich im Geist des alten Lehrmeisters eine Vermutung: Dieser „Grimbart“ musste Gamdhod sein, ein griesgrämiger Goblin, der in den Tiefen des Waldes von Vanavistaria hauste und den Umgang mit anderen Wesen mied. Da Gamdhod kaum über große magische Fähigkeiten verfügte, verblieb die Frage, wie es ihm gelungen war, einen derart dunklen Fluch auf die Jada-Eiche zu legen. Dieses Rätsel beschäftigte Meister Lehakonos bis heute.
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Der kleine Rafyndor benötigte damals einige Zeit, bis er sich von dem Schock erholt hatte.
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Lililja hatte währenddessen schweigend Rafyndor beobachtet. Der junge Waldgeist schien von Angst und Verwirrung überwältigt zu sein. Vorsichtig näherte sie sich ihm, legte ihre Hand sanft auf die seine. Er zuckte zusammen, und seine großen, vor Schrecken weit aufgerissenen Augen suchten die ihren.
„Du bist in Sicherheit, Rafyndor“, sprach Lililja leise, ihre Stimme eine sanfte Melodie. „Schau dich um. Spür den Wind, der durch die Blätter tanzt. Hör ihm zu. Atme die Düfte des Herbstes, koste sie auf deinen Lippen. Öffne deine Arme und fühle die Weite des Waldes.“
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Rafyndor blinzelte, als erwache er aus einem schweren Traum. Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Er schloss die Augen, lauschte, fühlte, atmete − und dann öffnete er die Augen weit, streckte die Arme aus und lief los. Ohne Ziel, einfach hinein in die Freiheit des Waldes. Aus seiner Kehle drang ein Lachen, das voller Erleichterung und Befreiung war, als wollte er den Schrecken der vergangenen Tage hinausrufen.
Lililja, die wohl eine solche Reaktion erwartet hatte, breitete ebenfalls die Arme aus und rannte lachend hinter ihm her. Ihre Stimmen hallten wie helle Glockenspiele durch die alten Bäume.
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Meister Lehakonos lächelte bei der Erinnerung. Dies, so wusste er, war der Beginn jener tiefen Freundschaft zwischen Lililja und Rafyndor gewesen. Seit diesem Tag waren die beiden unzertrennlich.
Anfangs, dachte er, mochte Pranicara sich wohl ein wenig zurückgesetzt gefühlt haben. Schließlich war Rafyndor ihr Cousin, ihr Vertrauter gewesen. Doch sie, ein selbstbewusstes und lebensfrohes Wesen, hatte sich rasch damit arrangiert. Bald schon hatte sie Lililja als Freundin gewonnen, und so wurden die drei unzertrennliche Gefährten.
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Pranicara kam erstaunlich gut mit der engen Freundschaft zwischen Lililja und Rafyndor zurecht.
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Die Jahre waren vergangen, und die Kinder von damals standen nun als Erwachsene vor Meister Lehakonos. Lililja und Rafyndor sahen ihn mit neugierigen Augen an.
Mit einem milden Lächeln auf den Lippen sprach der alte Lehrmeister: „Nun, Lililja, Rafyndor, was führt euch zu mir?“
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Lililja und Rafyndor standen in Meister Lehakonos′ Studierzimmer und schauten ihn neugierig an.
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