zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis1k) Der Übeltäter


Der Übeltäter


Rafyndor versteckte sich nach wie vor in der Höhle.
Rafyndor hatte nun bereits die vierte Nacht in der Dunkelheit der Höhle verbracht. Skukius hatte ihn sogleich gefunden, kaum dass er sich dort eingerichtet hatte. Wie es dem Korvum-Raben jedes Mal aufs Neue gelang, seinen Aufenthaltsort so mühelos zu erspähen, blieb Rafyndor ein Rätsel. Doch er hatte sich nie die Mühe gemacht, danach zu fragen.

Es war ein seltsames Gefühl, das ihn begleitete: Einerseits verspürte er den Unmut darüber, sich selbst vor Skukius nicht erfolgreich verbergen zu können. Andererseits empfand er in der Anwesenheit des Raben Trost und eine gewisse Erleichterung.

Die selbst auferlegte Einsamkeit war zuweilen schwer zu ertragen – besonders in den stillen Abendstunden, wenn die Sonne hinter dem Horizont versank und die Schatten in der Höhle länger wurden.

In jenen Momenten wanderte sein Geist unaufhaltsam zu Lililja. Was mochte sie über sein plötzliches Verschwinden denken? Würde sie ihm zürnen, weil er sie ohne jede Erklärung zurückgelassen hatte? Oder war es ihr womöglich gleichgültig, dass sie sich nicht mehr wie gewohnt in der Abenddämmerung begegneten? Vielleicht hatte sie die gemeinsamen Abende ohnehin nur aus einem Gefühl der Pflicht heraus mit ihm verbracht. Möglich wäre auch, dass sie diese ungewohnten Stunden der Freiheit insgeheim genoss. Doch was, wenn sie ihn ebenso vermisste, wie er sie?

Seine Gedanken trieben ihn zurück zu ihrer letzten Begegnung. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild von fast schmerzhafter Schönheit:

Lililja saß am Ufer des Mondspiegelteichs, ihre tiefblauen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Ihre Hand ruhte leicht auf der seinen, und das goldene Licht des Sonnenuntergangs ließ ihr langes, blondes Haar in sanften Wellen im Wind tanzen. Sie hatte gelächelt.

Diese Erinnerung schürte in ihm eine bittere Sehnsucht. Wie sollte er je wieder den Mut finden, ihr in die Augen zu blicken?

Eine lähmende Schwermut bemächtigte sich seiner. Aus Angst, sie eines Tages zu verlieren, hatte er sie in einem Anfall von Feigheit nun selbst verlassen.



Rafyndor dachte oft an Lililja.

Er verfluchte sich in Gedanken, schalt sich einen Narren. Warum war es ihm so unmöglich, Lililja einfach zu sagen, was er für sie empfand? War es die Furcht vor Zurückweisung? Oder fürchtete er sich davor, lächerlich gemacht zu werden – wie damals, als Pranicara über seine kindlichen Fragen gelacht hatte? Doch Lililja hatte ihn nie verspottet, dessen war er sich sicher. Allerdings hatte er ihr auch niemals offenbart, dass er sie liebte.

Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust.



Vor drei Tagen war Skukius zu Rafyndor gekommen und hatte eine Botschaft von Pranicara mitgebracht.

Vor drei Tagen war Skukius mit einer Nachricht von Pranicara zu ihm gekommen.

Sie hatte ihm ausrichten lassen, dass sie ihm drei Tage einräumen würde, um Klarheit über seine Gedanken zu gewinnen. Danach, so hatte sie angedeutet, würde sie ihm ungefragt dabei helfen. Diese Frist endete morgen.

Rafyndor hatte Skukius jedoch ein striktes Versprechen abverlangt: Er dürfe ihr niemals seinen Aufenthaltsort verraten. Sollte sie sich dennoch auf die Suche nach ihm machen, so würde sie ihn nicht finden.

Er war überzeugt, dass selbst Pranicara, ein Wesen des Waldes, diesen Forst nicht kannte – nicht so wie er. Die weitläufigen Wälder des Zentrums der Hellen Magie boten Schutz und Versteck in unendlicher Fülle.

Mit diesen Gedanken wandte er sich seiner Arbeit zu. Auch wenn er sich in die Isolation zurückgezogen hatte, konnte er seine Aufgaben nicht gänzlich vernachlässigen. Es galt noch immer, jenes merkwürdige Wesen aufzuspüren, das die Rinde der uralten Bimara-Buchen zerfraß. Sein bisheriges Suchen war vergeblich geblieben, was ihn gleichermaßen frustrierte und ratlos machte.

Dieses Tier kann sich doch nicht für immer verborgen halten, dachte er und griff zur nächsten Aufgabe, während in ihm ein innerer Konflikt weiter tobte: die Sehnsucht nach Lililja und die Angst vor ihrer Reaktion auf seine tiefsten Gefühle.

„Dieser verfluchte Vogel!“ Eine piepsige Stimme drang unvermittelt an Rafyndors Ohr.

Er blickte in die Richtung, aus der die Worte kamen, und entdeckte hinter einer mächtigen Bimara-Buche ein aufgeregtes Eichhörnchen. Es saß aufrecht, die kleinen Pfoten in die Luft gereckt, und starrte zornig zu einer Stelle an der Rinde hinauf, die sichtbar angefressen war. „Kann der nicht endlich damit aufhören?“

Rafyndor trat behutsam näher, darauf bedacht, das scheue Tier nicht zu verschrecken. Ehe er ihm zu nahe kam, ließ er sich leise auf die Knie nieder und fragte in der Sprache der Eichhörnchen: „Weshalb ärgerst du dich über einen Vogel?“



Das Eichhörnchen bekam einen Schrecken und rannte davon.

Das Eichhörnchen, das bislang nicht bemerkt hatte, dass es beobachtet wurde, zuckte heftig zusammen. Noch ehe Rafyndor es beschwichtigen konnte, schoss es in panischer Hast davon.

Der Waldhüter seufzte und zuckte mit den Schultern − eine solche Reaktion war nicht unerwartet. Doch die Worte des kleinen Nagers ließen ihn aufhorchen. Ein Vogel? Das war ein Gedanke, der ihm bislang nicht gekommen war. Langsam erhob er sich und trat näher an die Bimara-Buche heran, um die Verletzung in der Rinde genauer zu betrachten.

Die Fraßspuren entsprachen dem Muster, das er bei allen betroffenen Bimara-Buchen festgestellt hatte. Bisher hatte er stets ein größeres Tier als Verursacher vermutet, eines mit kräftigen Reißzähnen. Aber ein Vogel? Das schien unplausibel.

Dennoch − was wäre, wenn? Er ließ seinen Blick erneut prüfend über die Wunde gleiten. Langsam begann sich eine Idee in seinem Kopf zu formen. Sollte der Übeltäter tatsächlich ein Vogel sein, so hatte er sich größte Mühe gegeben, die Spuren aussehen zu lassen, als wären sie von einem weitaus größeren Wesen verursacht worden. Mit vorsichtigen Fingern betastete Rafyndor die Rinde, spürte die Unebenheiten und Kratzer nach. Die Erkenntnis dämmerte ihm. Ja, es war möglich, dass ein kleiner Vogel die Illusion eines größeren Tieres erzeugt hatte.



Rafyndor untersuchte die Wunde der Bimara-Buche noch einmal.

Ein Lachen brach aus ihm hervor, ein Ton, der zwischen Belustigung und Selbstironie schwankte. „Ein Vasta-Sperling!“, murmelte er schließlich. Diese frechen, gewitzten Vögel waren durchaus zu einer solchen Täuschung fähig. Wie hatte er sie nur übersehen können? Er hatte die ganze Zeit nach einem großen Tier gesucht und dabei die kleinen, gerissenen Sperlinge völlig außer Acht gelassen.

Die Aussicht, den Schwindler bald zu überführen, erfüllte ihn mit unerwarteter Zuversicht. Na warte, mein kleiner Freund, dachte er mit einem Grinsen, bald erwische ich dich auf frischer Tat!

Der Gedanke, dass er sich so lange hatte täuschen lassen, war gleichermaßen ärgerlich wie amüsant. Doch an diesem Tag fühlte sich Rafyndor beflügelt.

Später, als er eine Schar Vasta-Sperlinge erblickte, ging er sofort in Deckung. Er hatte diese Gruppe schon häufiger gesehen, doch nie war ihm der Gedanke gekommen, dass sie etwas mit den beschädigten Bäumen zu tun haben könnten. Nun wollte er die Dinge anders angehen.

Behutsam beobachtete er die bunten, kleinen Vögel. Bald schon bemerkte er einen Sperling, der sich verdächtig verhielt: Mit kritischem Blick musterte er die Rinde einer Bimara-Buche, als würde er eine geeignete Stelle suchen. Schließlich setzte er sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit an den glatten Stamm und begann zu werkeln.



Rafyndor beobachtete eine große Schar Vasta-Sperlinge.

Zuerst hackte er mit seinem Schnabel auf die Rinde ein, dann riss er einzelne Stücke ab, die er vorher gelockert hatte. Als Nächstes flog er zu Boden, hob einen kleinen Stein auf und schlug damit wiederholt gegen den Stamm. Ein Zweig wurde ebenfalls herangezogen – das winzige Wesen stieß ihn immer wieder mit Nachdruck in die Wunde, die es selbst geschaffen hatte.



Der kleine Vasta-Sperling gab sich große Mühe, die Wunde an der Bimara-Buche wie die von einem großen Tier aussehen zu lassen.

Abschließend kratzte der Sperling mit einem Fuß in der Verletzung, während er sich mit dem anderen festklammerte.

Rafyndor konnte nicht umhin, diesen raffinierten Betrug mit einer Mischung aus Bewunderung und Unmut zu betrachten. Doch genug war genug.

Lautlos zog er sein Fangnetz aus der Umhängetasche, spannte es und wartete auf den richtigen Moment. Als der Sperling gerade zum Abflug ansetzte, schleuderte Rafyndor das Netz. Der kleine Vogel flatterte heftig, verfing sich aber hilflos in den Maschen und landete auf dem Waldboden.

Rafyndor trat aus seinem Versteck, hob das Netz mitsamt dem zappelnden Sperling auf und befreite ihn vorsichtig, hielt ihn jedoch sicher in der Hand. Die kleinen Augen des Vogels waren vor Schreck weit aufgerissen.

„Da haben wir dich!“, sagte Rafyndor streng in der Sprache der Vasta-Sperlinge. Seine Stimme war ein wenig milder, als er es geplant hatte. „Du hast mich lange genug an der Nase herumgeführt!“

Der Blick des Vasta-Sperlings veränderte sich merklich, Verwunderung zeichnete sich in seinen kleinen, glänzenden Augen ab. „Du sprichst unsere Sprache?“, piepste er ungläubig, wobei seine Stimme vor Überraschung fast überschnappte.

„Nicht nur die eure“, entgegnete Rafyndor mit einem leichten Schmunzeln. Es fiel ihm schwer, seine Belustigung zu verbergen. „Ich muss zugeben, du hast mich beeindruckt. Ich habe dich beobachtet, wie du diese Verletzung an der Bimara-Buche auf so einfallsreiche Weise verursacht hast. Es war bemerkenswert. Aber sag mir, wie bist du nur auf die Idee gekommen, die Spuren eines großen Raubtiers mit scharfen Reißzähnen zu imitieren? War dein Ziel, mich hinters Licht zu führen?“

„Hat es funktioniert?“, fragte der kleine Vogel und wirkte dabei nicht ohne Stolz.

Rafyndor lachte herzhaft.

„Oh ja, das hat es. Ich habe die ganze Zeit nach einem großen Tier gesucht und niemals auch nur im Traum daran gedacht, dass ein frecher kleiner Sperling wie du dahinterstecken könnte. Doch heute hat mich ein wütendes Eichhörnchen auf den richtigen Gedanken gebracht. Es schimpfte lautstark über einen Vogel, der die Bimara-Buchen nicht in Ruhe lässt. Daraufhin habe ich mir die Spuren noch einmal genauer angesehen. Aber sag mir, warum machst du das überhaupt?“

„Weil es einfach köstlich ist zu sehen, wie dramatisch die Bimara-Buchen auf so eine winzige Verletzung reagieren!“ Der Vasta-Sperling gluckste leise, sein feines Lachen klang wie das Zirpen einer kleinen Flöte.


Rafyndor hatte den kleinen Übeltäter gefangen.

Rafyndor konnte seine Überraschung kaum verbergen − dieser Vogel war nicht nur ein Meister der Täuschung, sondern hatte auch noch Humor.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Rafyndor schließlich, überzeugt davon, dass dieser Vasta-Sperling etwas ganz Besonderes war.

„Ich habe keinen Namen“, antwortete der Vogel schlicht und zuckte mit seinen Flügeln. „Vasta-Sperlinge tragen keine Namen. Es gibt einfach zu viele von uns − niemand könnte sich so viele Namen merken!“

Rafyndor runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber dir ist doch bewusst, dass du ein außergewöhnlicher Vasta-Sperling bist? Eine solche List habe ich bei deiner Art noch nie gesehen. Ich hoffe allerdings, dass du diesen Unsinn jetzt lässt. Du machst mir eine Menge unnötige Arbeit.6ldquo; Sein Blick war forschend, doch der Sperling zuckte lediglich unbeeindruckt mit den Flügeln und piepste lakonisch: „Mal sehen.“

Rafyndor seufzte und überlegte einen Moment. Dann sprach er mit einem nachdenklichen Ton: „Wärst du damit einverstanden, wenn ich dir einen Namen gebe? Vielleicht werde ich eines Tages deine Fähigkeiten brauchen, und dann könnte ich dich leichter rufen.“

Die kleinen Augen des Vogels weiteten sich, und ein Ausdruck von Stolz und Neugier legte sich über sein Gesicht. „Nur unter einer Bedingung“, piepste er. „Du lässt mich jetzt frei. Dieses Gefangensein ist äußerst unangenehm.“


Rafyndor gab dem kleinen Vasta-Sperling den Namen Rangalo.

Rafyndor zögerte keine Sekunde. Sachte öffnete er seine Hand, und der Vasta-Sperling flatterte auf einen nahen Ast. Dort schüttelte er sein Gefieder ausgiebig und musterte Rafyndor mit leicht geneigtem Kopf. „Nun darfst du mir einen Namen geben“, piepste er schließlich.

„Was hältst du von Rangalo?“, fragte Rafyndor, ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich finde, der Name passt zu dir.“

Der Vogel schien den Klang des Namens auf sich wirken zu lassen. „Rangalo“, piepste er nachdenklich.

Dann wiederholte er lauter: „Rangalo!“ Ein Strahlen schien von ihm auszugehen. „Oh, das ist ein großartiger Name! Von jetzt an bin ich Rangalo! Rangalo, der Vasta-Sperling!“

Mit einem triumphierenden Zwitschern flatterte der kleine Vogel zu seiner Schar hinüber und rief, so laut es sein zarter Körper zuließ: „Ich bin Rangalo! Rangalo, der Vasta-Sperling!“ Rafyndor konnte das fröhliche Rufen noch lange hören, während er schmunzelnd weiter seiner Arbeit nachging.

Doch mit einem Mal schlich sich ein Hauch von Schwermut in sein Herz. Sein Gedanke wanderte unweigerlich zu Lililja. Wie gerne würde er ihr von seiner Entdeckung berichten, ihr erzählen, dass er endlich den Übeltäter gefunden hatte, der die Bimara-Buchen so sehr geplagt hatte. Doch das würde er nicht können − jedenfalls nicht, solange er ihr fernblieb. Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust, und er widmete sich wieder seiner Arbeit, während die Erinnerung an Lililjas Lächeln ihm nicht aus dem Sinn gehen wollte.


Rafyndor kehrte beim Sonnenuntergang
zur Höhle zurück.

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