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Drei Tage waren seit Pranicaras letztem Gespräch mit Skukius verstrichen, und so hatte sie Lililja heute Morgen vor der Zusammenkunft der Zaubergemeinschaft mit Bedauern mitteilen müssen, dass sie noch immer keine Neuigkeiten von ihrem Cousin erhalten hatte.
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Lililja und Pranicara dachten sich Erklärungen dafür aus, warum Rafyndor nicht am Treffen der Zaubergemeinschaft teilnehmen konnte.
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Meister Lehakonos, der bereits am Vortag sein Erstaunen über Rafyndors Abwesenheit bekundet hatte, zeigte sich erneut verwundert.
Gegenüber Lililja und Pranicara äußerte er seine Befremdung mit einem scharfen Blick, doch in stillschweigender Absprache erklärten die beiden Frauen, Rafyndor sei in einem entlegenen Teil des Waldes mit instabilen magischen Knotenpunkten befasst, die seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten und ihn somit an der Teilnahme hinderten.
Auch heute wiederholten sie diese Erklärung, als der Hohemagier erneut nach Rafyndors Verbleib fragte.
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Diesmal fügten sie hinzu, dass die problematischen Knotenpunkte möglicherweise mit dem bevorstehenden Schleiersturm zusammenhingen. Doch Meister Lehakonos, dessen scharfer Verstand ihnen nie ganz geheuer war, ließ mit einer skeptischen Falte auf seiner Stirn erahnen, dass er ihre Worte anzweifelte. Dennoch sprach er sie nicht weiter darauf an.
Jadoruc, der beleibte Vykati, war weniger diskret. Seine Stirn war tief in Falten gelegt, und er warf den beiden Frauen kritische Blicke zu, wann immer sich die Gelegenheit bot. Rafyndors anhaltende Abwesenheit ließ sich schwerlich entschuldigen, zumal die Vorbereitungen zum Schutz des Zentrums der Hellen Magie in vollem Gange waren. Als Oberster Waldhüter Vanavistarias hätte er an vorderster Front stehen müssen.
Auch Pranicaras Geduld mit ihrem Cousin begann zusehends zu schwinden. Es war für sie unverständlich, wie er sich aus persönlichen Befindlichkeiten so vollständig zurückziehen konnte, anstatt sich seinen Pflichten zu stellen. Solch ein Verhalten erschien ihr für jemanden in seiner Position schlichtweg untragbar.
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Nach der Versammlung verabschiedete sie sich von Lililja und wandte sich an den Korvum-Raben, der auf ihrem Arm saß. Skukius hatte sie aus der Kristallhöhle mitgebracht, wo er an der Seite des Hohenmagiers erschienen war.
„Hör mal, mein Freund“, begann Pranicara mit einem Tonfall, der keine Nachsicht erwarten ließ. Skukius, der die Waldgeistfrau gut genug kannte, um ihre Vorhaben zu erahnen, flatterte auf einen Ast, legte den Kopf schief und zog skeptisch die schmalen Augenbrauen über seinem Schnabel zusammen.
„Weißt du, ob Rafyndor Fortschritte bei der Klärung seiner Gedanken gemacht hat?“, fragte sie unvermittelt.
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Pranicara reichte es allmählich mit Rafyndors merkwürdigem Verhalten.
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Der Rabe schüttelte stumm den Kopf.
„Dann werden wir ihm eben ein wenig auf die Sprünge helfen“, verkündete sie entschlossen.
Skukius′ Skepsis vertiefte sich, und er blickte sie mit verschärftem Misstrauen an.
„Du weißt doch, wo sich mein lieber Cousin aufhält“, setzte Pranicara mit fester Stimme fort. „Kannst du mich zu ihm führen?“
Der Korvum-Rabe schüttelte energisch den Kopf. „Nein!“, krächzte er entschieden.
„Warum nicht?“, fragte Pranicara, aufrichtig erstaunt.
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Skukius war nicht bereit, seinen Freund zu verraten.
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„Ich habe dir doch gesagt“, entgegnete Skukius, „dass Rafyndor mir ausdrücklich untersagt hat, jemandem von seinem Versteck zu erzählen. Und der Wunsch eines Freundes ist mir heilig!“
Pranicara musterte ihn mit durchdringendem Blick. „Ich verlange ja nicht, dass du mir seinen Aufenthaltsort verrätst“, sagte sie ruhig, „nur, dass du mich zu ihm führst. Auf diese Weise würdest du dein Versprechen halten, und ich könnte dennoch mit ihm sprechen.“
Skukius überlegte eine Weile, bevor er den Kopf erneut schüttelte.
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„Nein“, sagte er schließlich, „ich habe ihm versprochen, dir nichts zu verraten − und das schließt auch ein, dich zu ihm zu bringen.“
Die Seelenheilerin verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Ton wurde eindringlich. „Hör mir zu, Skukius. Der Schleiersturm rückt unaufhaltsam näher, und Rafyndor trägt die Verantwortung für den Wald. Seine anhaltende Abwesenheit wird bald nicht mehr zu verbergen sein, und dann wird sein Verhalten unabsehbare Konsequenzen haben. Außerdem, das spürst du doch sicher auch, geht es ihm momentan nicht gut. Ich könnte ihm helfen – wenn er nur zuließe, dass ich zu ihm durchdringe.“ Sie hielt inne, ihre Stimme voller Nachdruck. „Wir müssen ihn in die Gemeinschaft zurückholen, Skukius. Andernfalls wird nicht nur Rafyndor leiden, sondern der gesamte Wald in Gefahr geraten.“
Der Rabe betrachtete sie lange, wie in einem inneren Kampf gefangen. Schließlich nickte er langsam. „Ich werde sehen, ob ich ihn überreden kann, zurückzukehren“, versprach er schließlich.
„Und wirst du mich informieren, ob es dir gelingt?“, fragte Pranicara eindringlich.
Skukius nickte abermals, bevor er sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft erhob und davonflog.
Möge er Erfolg haben, dachte Pranicara und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Mit einem leisen Seufzen wandte sie sich schließlich den Aufgaben des Tages zu.
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Zunächst begab sie sich zu einem kleinen Fledernäschen, das tief im Wald beheimatet war und sich vor einigen Tagen an einem Dornenstrauch die zarte Pfote aufgerissen hatte. Mit Sorgfalt hatte sie damals einen Heilbrei aus der Rinde der Paventa-Birke bereitet, die salbenartige Mischung behutsam auf die Wunde aufgetragen und das verletzte Glied mit feinem Verband geschützt. Ihren Berechnungen zufolge müsste die Heilung mittlerweile soweit fortgeschritten sein, dass die Wunde geschlossen und der Verband entbehrlich war.
Vorsichtig löste sie die Umwicklung, darauf bedacht, das Tier nicht zu beunruhigen. Zu ihrer Zufriedenheit offenbarte sich darunter gesundes, nahezu makelloses Gewebe. Mit einem freudigen Hüpfer drückte das Fledernäschen seine Dankbarkeit aus und machte sich rasch davon.
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Pranicara sah nach dem kleinen Fledernäschen, das sich vor einigen Tagen seine Pfote an einem Dornenstrauch aufgerissen hatte.
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„Sei in Zukunft vorsichtiger bei den Dornensträuchern!“, rief Pranicara ihm lächelnd hinterher, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem nächsten Ziel machte.
Dieses lag auf der größten Lichtung im Zentrum des Waldes, der sogenannten „Morgenglanzlichtung“. Hier lebten die Lichtgeister, und das Licht selbst, in seiner reinsten und unverfälschtesten Form, erfüllte diese Stätte. Die Elemente schienen hier im Einklang mit dem Licht zu tanzen, eine Atmosphäre zu schaffen, die zugleich magisch und friedvoll war.
Pranicara liebte es, die Morgenglanzlichtung zu besuchen; der Aufenthalt dort nährte ihre Seele und erfrischte ihren Geist. Doch heute war sie nicht aus eigenem Bedürfnis hier, sondern um sich nach dem Wohl Saralas zu erkundigen, der Sprecherin der Lichtgeister.
Die zarten Lichtgeister, kaum zehn Zentimeter groß, waren Wesen von simpler und doch strenger Geisteshaltung: Für sie existierte nur Reinheit oder Unreinheit, Ordnung oder Chaos − ein Dazwischen kannten sie nicht. Sarala, in ihrer Rolle als Sprecherin, trug diesen Dualismus auf eine Weise in sich, die oft an Perfektionismus grenzte. Ihr unermüdlicher Anspruch, für vollkommene Ordnung und Reinheit in ihrer Gemeinschaft zu sorgen, wurde in den letzten Wochen durch die nahende Bedrohung des Schleiersturms noch verstärkt.
Pranicara hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Sarala in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Mit ihrer Seelenheilungsmagie suchte sie, den übertriebenen Perfektionsdrang der Lichtgeistsprecherin zu mildern, und brachte bei jedem Besuch Kemuli mit, eine beruhigende und stärkende Pflanze, die in Form eines frisch zubereiteten Tees ihre heilsame Wirkung entfaltete.
In der Hoffnung, dass Sarala ihren Anweisungen folgte und täglich drei Tassen des Tees trank, betrat Pranicara die Lichtung.
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Sarala, die Sprecherin der Lichtgeister, zeigte bisweilen einen zu großen Perfektionsanspruch an Ordnung und Reinheit.
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Zu ihrer Erleichterung fand sie Sarala in einem ungewöhnlich entspannten Zustand vor. In ihr lilafarben schimmerndes Gewand gehüllt, das wunderbar mit ihren lilapink leuchtenden Flügeln harmonierte, saß sie mit einer Tasse dampfenden Kemulitees in den Händen auf einem Zweig vor ihrer Behausung. Die sanfte Wirkung des Tees schien bereits eingesetzt zu haben, und Sarala wirkte so gelöst wie selten zuvor.
Pranicara lächelte innerlich. Es war gut zu wissen, dass der Tee bei diesen empfindsamen Wesen seine Wirkung zeigte. Gerade bei den Lichtgeistern, deren Perfektionsansprüche oft über das Maß des Erträglichen hinausgingen, war Kemuli ein Segen. Ohne diese Hilfe, so fürchtete Pranicara, hätten die Lichtgeister vor Ankunft des Schleiersturms womöglich den Verstand verloren.
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Erfüllt von der friedvollen Energie der Lichtung und dem guten Gefühl, Sarala in einer solch stabilen Verfassung zu sehen, verabschiedete sich Pranicara und ließ den Ort hinter sich.
Während sie den Pfad zurück in den dichten Wald einschlug, dachte sie voller Dankbarkeit an die Natur Vanavistarias. Wie viele wundersame und heilende Pflanzen hatte dieses Land hervorgebracht, und mit welcher Weisheit hatten die Magier der früheren Zeiten diese Schätze erforscht! Die Erkenntnisse jener alten Tage waren ein kostbares Erbe, das sie mit Freude und Hingabe in ihrem Wirken weitertrug.
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Als Pranicara schließlich zu ihrer gemütlichen Waldhütte zurückkehrte, erblickte sie Skukius, der gerade von seinem Besuch bei Rafyndor zurückgekehrt war. Der Korvum-Rabe ließ sich auf einem Ast in ihrer Nähe nieder, schüttelte sein glänzendes Gefieder und beobachtete sie mit einem Ausdruck, der sowohl Vorsicht als auch Pflichtbewusstsein verriet.
„Schön zu sehen, dass du dein Versprechen hältst, Skukius“, begrüßte Pranicara ihn mit einem freundlichen Lächeln, das jedoch von einer Spur Ungeduld getrübt war. „Und? Was sagt mein lieber Cousin?“
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Skukius war von seinem Besuch bei Rafyndor zurückgekehrt.
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Skukius schüttelte bedächtig den Kopf. „Er ist nicht bereit zurückzukehren“, verkündete er schließlich mit ernster Stimme. „‚Noch nicht!‘ hat er gesagt, aber ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt die Absicht hat, jemals zurückzukehren.“
Zornesfalten traten auf Pranicaras sonst so glatter Stirn hervor. Nie zuvor hatte sie Rafyndor, den Obersten Waldhüter Vanavistarias, so eigensinnig erlebt.
„Weißt du, ob sein Problem mit dem nahenden Schleiersturm und der damit verbundenen Aufgabe zusammenhängt?“, fragte sie, bemüht, die eigene Verärgerung zu zügeln.
Doch Skukius schüttelte erneut den Kopf.
„Was mich besonders beunruhigt“, fuhr Pranicara laut denkend fort, „ist die Tatsache, dass er sich von Lililja fernhält. Sollte es wirklich das Problem sein, das ich vermute, dann kann ich ihm helfen. Ich will ihm helfen.“
Sie richtete ihren klaren, entschlossenen Blick auf den Korvum-Raben. „Ach, Skukius, Rafyndor kann sich doch nicht auf ewig isolieren. Er ist der Oberste Waldhüter, seine Verantwortung reicht weit über ihn selbst hinaus! Der Wald, die Tiere, die Bäume − sie alle zählen auf ihn. Der Schleiersturm naht, und ohne ihn werden wir den Wald nicht in Stellung bringen können. Solche Vorbereitungen erfordern Zeit, und jede Stunde, die verstreicht, bringt uns näher an die Gefahr.“
Ihre Stimme gewann an Dringlichkeit. „Wenn du wirklich sein Freund bist, dann hilf mir, ihn zu finden. Du musst mir nicht seinen Aufenthaltsort verraten − führe mich einfach hin. Ich werde dir folgen, und wenn es nötig ist, kannst du immer noch behaupten, ich hätte dich überlistet.“ Sie sah ihn flehend an. „Bitte, Skukius, ich muss ihn sehen!“
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Pranicara folgte Skukius quer durch den Wald zum Versteck von Rafyndor.
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Der Rabe schwieg einen Moment, als erwäge er die Tragweite ihrer Worte. Schließlich nickte er widerwillig und setzte sich in Bewegung.
Pranicara eilte ihm nach, doch das Tempo des fliegenden Skukius war für sie kaum zu halten. Er bemerkte ihre Anstrengung und machte regelmäßig Halt, ließ sich auf Ästen nieder und widmete sich mit gespielter Gelassenheit der ausgiebigen Pflege seines Gefieders.
Pranicara konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – es war, als wolle er vor sich selbst den Anschein wahren, sie nicht bewusst zu führen.
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Nach zwei schweißtreibenden Stunden erreichten sie schließlich eine schmale Passage, die wie ein verborgenes Tor wirkte. Auf der einen Seite türmten sich Felsen in schwindelerregender Höhe, während die andere von einem undurchdringlichen Gewirr aus dichtem Blätterwerk gesäumt war. Der Boden war mit weichem Moos und niedrigen Pflanzen bedeckt, dazwischen lagen verstreut große Felsbrocken wie stumme Wächter.
Dort, auf einem dieser Felsen sitzend, entdeckte sie Rafyndor. Halb abgewandt von ihnen schien er in eine Akharota-Nuss vertieft zu sein, die er gerade knacken wollte. Es war offensichtlich, dass sie ihn während einer seiner seltenen Ruhepausen überrascht hatten.
Skukius flog auf einen nahen Ast und setzte sich dort nieder. Der leichte Schatten, den seine Bewegung warf, ließ Rafyndor aufblicken.
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Als er den Raben erblickte, blitzte Freude in seinen Augen auf, doch als sein Blick Pranicara traf, verfinsterte sich seine Miene umgehend.
„Verräter!“, knurrte er in Skukius′ Richtung, seine Stimme vor aufgestautem Zorn geladen.
Doch der Korvum-Rabe richtete sich mit stolzer Haltung auf seinem Ast auf, unbeirrt von der Anklage. „Du bist der Oberste Waldhüter Vanavistarias“, erklärte er mit ruhiger Entschlossenheit, „und deine Pflicht ruft. Der Wald braucht dich, Rafyndor, ebenso wie das Zentrums der Hellen Magie. Da du nicht bereit bist, aus eigenem Antrieb zurückzukehren, musste ich handeln.“
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Rafyndor war nicht begeistert, als er Skukius in Begleitung von Pranicara erblickte.
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Mit diesen Worten breitete Skukius seine dunklen Flügel aus und erhob sich in die Lüfte, Rafyndor seiner Cousine überlassend.
Pranicara blieb reglos stehen, die angespannte Stille zwischen ihnen mit Nachdruck spürend. Rafyndor blickte sie finster an, doch sie hielt seinem Blick stand. Sie war gekommen, um ihm zu helfen, und sie würde nicht weichen.
Rafyndor musterte Pranicara mit einem Blick, der von Zorn und Abwehr gleichermaßen erfüllt war. Es war offensichtlich, dass er nicht die Absicht hatte, sich von ihr in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Noch weniger war er bereit, sich ihrer Seelenheilungsmagie auszusetzen.
Pranicara ließ sich von seiner finsteren Haltung nicht beirren. Mit gespielter Unbekümmertheit ließ sie ihren Blick durch die Umgebung schweifen, als wolle sie die schroffe Schönheit des Ortes genießen. Schließlich brach sie das Schweigen, ihre Stimme schneidend sanft: „So, so. Hier also versteckst du dich − vor Lililja und deinen Gefühlen für sie.“
Rafyndor fuhr zusammen, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Für einen Augenblick stand ihm die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Innerlich triumphierte Pranicara. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Also“, fuhr sie mit Nachdruck fort, „du hast es endlich erkannt, nicht wahr? Dass ihr beide erwachsen geworden seid?“
Sprachlos starrte Rafyndor sie an. Er hatte mit einer moralischen Standpauke gerechnet, nicht mit dieser entwaffnenden Treffsicherheit, die ihn bis ins Mark traf. Ihm fehlten die Worte.
Pranicara ließ ihm keine Zeit, sich zu fangen.
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Pranicara versicherte Rafyndor, dass Lililja keine Ahnung von seinen Gefühlen für sie hatte.
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„Falls es dich beruhigt“, sagte sie mit leiser Ironie, „Lililja ahnt nicht das Geringste von deinen Gefühlen. Vor einigen Tagen habe ich sie zum Tee eingeladen und mir erlaubt, sie genauer zu beobachten. Ihre Gesten, ihre Mimik – alles sprach dafür, dass sie vermutet, du hättest Angst vor der Herausforderung des Schleiersturms. Sie glaubt, dass dich diese Bürde so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht hat, dass du dich sogar von ihr zurückziehst. Aber weißt du, was mich wirklich bewegt?“ Ihre Stimme wurde weicher. „Sie macht sich Sorgen um dich, Rafyndor. Große Sorgen. Sie hat sogar versucht, dich im Wald aufzuspüren, obwohl sie wusste, dass ihre Suche vergeblich sein würde. Ihre Sorge um dich ist so überwältigend, dass sie ihre eigenen Aufgaben vernachlässigt. Und wenn du nicht zu uns zurückkehrst, gefährdest du nicht nur den Wald und ganz Vanavistaria – du lässt auch zu, dass Lililja, unsere Hüterin der Natur und der Magie, aus ihrer Konzentration gerissen wird. Ist das wirklich das, was du willst?“
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Rafyndor fühlte, wie die Barrieren in seinem Inneren zu bröckeln begannen. Der Gedanke, dass Lililja nichts von seinen Gefühlen wusste, erfüllte ihn mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Bedauern. Sie war nicht wütend auf ihn. Sie sorgte sich.
Pranicara trat einen Schritt näher und sprach mit einer Sanftheit, die ihn gleichzeitig tröstete und rüttelte: „Hör zu, Rafyndor. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Ich werde Lililja nichts verraten − das verspreche ich dir. Allerdings frage ich mich schon lange, wann du endlich selbst erkennst, dass du sie liebst. Denn für jemanden, der dich von Kindesbeinen an kennt, ist das mehr als offensichtlich. Es begann damals, nach der Befreiung aus der Jada-Eiche. Du warst ein Kind, ja, aber deine Zuneigung zu ihr war schon damals unübersehbar. Seitdem hat sich nichts daran geändert.“ Sie hielt inne, ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Es hat nur eine Ewigkeit gedauert, bis es dir selbst klar geworden ist!“
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Rafyndor ließ ihre Worte auf sich wirken. War es wirklich so offensichtlich gewesen? Als er darüber nachdachte, schienen sich ihre Beobachtungen mit seinen eigenen Gefühlen zu decken. Ja, er hatte Lililja immer geliebt − vielleicht unbewusst, vielleicht verdrängt, doch die Wahrheit hatte nie aufgehört zu existieren.
Pranicara sah ihm an, wie die Erkenntnis in ihm Wurzeln schlug, und sie gab ihm geduldig die Zeit, die er benötigte, um seine Gedanken zu ordnen. Schließlich schlich sich ein Lächeln auf Rafyndors Gesicht − erst zögernd, dann immer klarer. Mit einem Entschluss, der aus tiefster Seele kam, trat er auf seine Cousine zu und schloss sie in die Arme.
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Rafyndor überlegte, ob Pranicaras Aussage stimmte, dass er sich schon als Kind in Lililja verliebt hatte.
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„Danke, dass du gekommen bist“, sagte er mit hörbarer Erleichterung. „Du hast mir eine schwere Last von der Seele genommen.“
Pranicara grinste verschmitzt. „Und das ganz ohne Magie“, bemerkte sie augenzwinkernd und erwiderte die Umarmung. „Bist du bereit, wieder in die Gemeinschaft zurückzukehren?“
Rafyndor nickte, ein Leuchten in den Augen. „Vorher muss ich allerdings noch einen Verräter zur Rechenschaft ziehen“, fügte er spitzbübisch hinzu.
Mit einem lauten Pfiff rief er Skukius herbei, der mit einer Mischung aus Vorsicht und Stolz herangeflogen kam und sich in sicherer Entfernung auf einem Ast niederließ. Rafyndor verschränkte die Arme und rief: „So, mein gefiederter Verräter. Hast du geglaubt, du könntest mich hintergehen, ohne Konsequenzen?“
Doch bevor Skukius eine Antwort fand, pfiff Rafyndor erneut. „Rangalo!“, rief er, und ein kleiner Vasta-Sperling erschien in Windeseile, ließ sich mit frechem Zwitschern auf Rafyndors ausgestrecktem Finger nieder.
„Darf ich vorstellen?“, begann Rafyndor in gespielt förmlichem Ton. „Das ist Rangalo, ein äußerst pfiffiger kleiner Vasta-Sperling, der es geschafft hat, mir wochenlang weiszumachen, dass ein großes Raubtier die Bimara-Buchen bedroht. Und das“, er deutete mit einem Nicken auf Skukius, „ist Skukius, ein Freund, der manchmal klüger handelt, als ich es verdient hätte.“
Ein breites, herzliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er fügte leise, aber voller Wärme hinzu: „Danke, Skukius.“
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Rafyndor machte Skukius und Rangalo miteinander bekannt.
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