zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis3a) Der Baum der Magie


Der Baum der Magie

Drei Monate waren vergangen, seit Mojalian Vanavistaria den Rücken gekehrt und auf seine Heimatwelt zurückgekehrt war. Doch auch wenn sein Wesen längst entschwunden war, hallte sein Vermächtnis durch die Täler und Wälder Vanavistarias, tiefer, als er selbst es wohl jemals erahnen konnte.

Sein Name war noch immer auf vielen Lippen, seine Gestalt lebendig in den Gedanken derjenigen, die ihn gekannt hatten.

In den stillen Stunden des Abends murmelten Stimmen seine Erinnerung herauf: „Ich vermisse unsere nächtlichen Gespräche. Oft dachte ich, der Tag sei wieder einmal unerträglich gewesen, bis Mojalian mich mit seinen Worten aufrichtete. Danach erschien alles weniger düster, weniger belastend. Er hatte eine Gabe, Trost zu schenken.“



Viele Einwohner Enchantedias vermissten die Gespräche mit Mojalian.

Ein anderes Mal hieß es: „Wann immer ich mich mit meinem Partner gestritten hatte, war Mojalian meine Zuflucht. Mit einer Frage − manchmal sogar mit bloßem Schweigen − brachte er mich dazu, die Unsinnigkeit unseres Zwistes zu erkennen. Nun, da er fort ist, fühle ich diese Leere, die er hinterlassen hat.“

Oder auch: „Einmal, als mein Nachbar und ich uns zerstritten hatten, gingen wir zu Mojalian. Es dauerte nicht lange, und er schaffte es, dass wir uns wieder die Hand reichten. Heute, wenn ein Konflikt zwischen uns aufkeimt, weiß ich nicht mehr, wohin ich mich wenden soll.“

Die Zauberwesen Vanavistarias mussten erst lernen, ihre Sorgen wieder ohne seine einfühlsame Präsenz zu tragen. Mojalian, der immer und zu jeder Stunde ein offenes Ohr für jeden gefunden hatte, war nun Teil einer Vergangenheit, die sich wie ein ferner Traum anfühlte.

Pranicara und die anderen Seelenheiler hatten seit Mojalians Fortgang kaum noch eine ruhige Stunde. Die Nachfrage nach ihrer Hilfe war so groß, dass sie kaum allen gerecht werden konnten. Pranicara, die einst auch den Tieren Fürsorge schenkte, sah sich zunehmend inmitten endloser Schlangen von Zauberwesen, die vor ihrer Hütte auf Trost warteten. Eines Morgens, als sich erneut eine solche Schlange vor ihren Türen formierte, murmelte sie mit einem erschöpften Seufzen: „Mojalian, was hast du nur angerichtet? Du hast sie alle verwöhnt mit deiner ständigen Gegenwart!“



Auch Pranicara, Lililja und Rafyndor mussten viel an Mojalian denken.

Auch Rafyndor vermisste die langen Gespräche mit dem Geisterwesen. Immer wieder ertappte er sich bei dem Gedanken: Mojalian, hast du Zeit? Doch da war nichts. Keine Antwort, nur die erdrückende Stille, die ihn jedes Mal aufs Neue mit einem schweren Seufzen zurückließ.

Wie oft hatte es gutgetan, mit Mojalian über Lililja zu sprechen, über jene unausgesprochene Liebe, die tief in seinem Herzen schlummerte. Jetzt jedoch musste er mit seinen Gedanken allein ringen.

Selbst Skukius, dem er seit jenem schicksalshaften Geständnis seiner Vergangenheit vieles anvertraute, war kein Ersatz für Mojalian in diesem Punkt. Denn auch wenn Skukius ihm ein loyaler Begleiter geworden war, blieb das Geheimnis seiner Liebe zu Lililja allein seines. Dieses Thema geht ihn nichts an, dachte Rafyndor oft bei sich, während er die Vertrautheit früherer Gespräche schmerzlich vermisste.

Warum nur, Mojalian? Warum musstest du gehen? Diese Frage hallte durch Rafyndors Gedanken wie das Echo eines einsamen Rufs. Warum konntest du nicht bleiben? Und warum musste ausgerechnet Skukius das Portal finden? Doch selbst bei diesem Vorwurf hielten er und der Korvum-Rabe sich an das Versprechen, das sie Mojalian gegeben hatten: Keiner von ihnen sprach je über das Portal.

Auch Lililja und Pranicara hatten niemals versucht, sie zu diesem Geheimnis zu befragen. Doch in ihren Blicken lag manchmal die stumme Frage, die niemals laut ausgesprochen wurde, ein unausgesprochenes Rätsel, das sie beide tief in ihren Herzen verschlossen hielten.

Lililja hatte sich nach Mojalians Abschied lange Zeit mit seinen rätselhaften letzten Worten beschäftigt. Auf dir ruht eine große Verantwortung, Lililja. Hüte dich selbst − und alle, die dir lieb sind. Diese Worte hallten in ihren Gedanken wider wie ein Echo in einer tiefen Schlucht. Was hatte er damit gemeint? Welche Verantwortung sollte auf ihren Schultern ruhen? Und weshalb dieser seltsame Nachsatz − auf wen sollte sie achten? Hatte Mojalian etwa versucht, ihr einen Scherz zu spielen, einen jener mysteriösen Gedankenfunken, die er so oft und so gerne streute?

Tag um Tag grübelte sie, suchte nach einer Antwort, aber letztlich musste sie aufgeben. Es hatte keinen Sinn. Nachfragen konnte sie schließlich nicht mehr, und das endlose Rätseln brachte ihr nur schlaflose Nächte. So entschied sie irgendwann, die Worte als einen Scherz abzutun − eine launige Bemerkung zum Abschied. Stattdessen klammerte sie sich an die Erinnerung an ihre langen, tiefgründigen Gespräche mit ihm, die sie stets mit einem Gefühl von Leichtigkeit und Frieden zurückgelassen hatten.

Besonders während ihrer Morgenrunden dachte sie oft an Mojalian. Es war eine stille, fast schon rituelle Art, ihn in ihren Alltag einzubinden. Sah sie einen Grashalm auf ihrem Weg, so machte sie einen großen Schritt darüber hinweg und sprach leise: „Ich wünsche dir ein schönes Leben.“ Fiel ihr ein besonders schöner Stein ins Auge, hob sie ihn auf und betrachtete ihn genau, als würde sie ihn durch Mojalians Augen sehen. „Was für eine Geschichte würde er mir wohl über dich erzählen?“, fragte sie sich, bevor sie den Stein vorsichtig wieder zurücklegte, als wäre er ein Schatz, der seinen angestammten Platz nicht verlieren durfte.

Wenn sie am Baum der Magie vorbeikam, den Ort, an dem Mojalian einst versucht hatte, die Magie des Baumes zu spüren, konnte sie anfangs nur schmunzeln. Doch mit der Zeit wich das Lächeln einer leisen Melancholie. Je häufiger sie an diesem Baum verweilte, desto mehr fühlte sie die Abwesenheit des Geisterwesens. Bald begann sie, an seinem Stamm innezuhalten und ihre Hand sanft auf die raue Rinde zu legen.

Für andere mochte diese Geste unauffällig wirken − schließlich war sie die Hüterin der Natur und der Magie, und der Kontakt mit den magischen Wesen und Bäumen Vanavistarias gehörte zu ihren Aufgaben. Doch Lililja hatte einen anderen Grund.



Lililja suchte bei dem Baum der Magie die Nähe Mojalians.

In diesen Momenten schien es ihr, als ob ein Teil von Mojalian hier verweilte, als hätte er, als er mit seinen Flügeln durch den Stamm dieses Baumes geglitten war, einen Splitter seiner Essenz in dem alten Holz eingebettet.

Oft flüsterte sie dem Baum zu: „Ach Mojalian, wenn ich nur noch einmal deine Gedanken hören könnte!“ Manchmal teilte sie ihm ihre Sorgen mit, sprach über die Herausforderungen ihres Amtes oder die Ängste, die sie heimlich plagten. Es war tröstlich − auch wenn keine Antwort kam, fühlte sie sich verstanden. Der Baum der Magie wurde zu ihrem stillen Gefährten, ihrem persönlichen Problemlöser. Mit der Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei, dass sie nicht nur während ihrer Morgenrunde zu ihm ging, sondern auch zu anderen Zeiten, wenn sie das Bedürfnis nach Nähe zu Mojalian verspürte.

Heute war es schon das dritte Mal, dass sie den Baum aufsuchte. Wie zuvor legte sie ihre Hand an die Rinde, spürte die warme Magie, die durch ihn pulsierte, und seufzte leise. „Mojalian, ich vermisse dich“, flüsterte sie. Die Worte schwebten zwischen ihr und dem Baum wie eine unausgesprochene Bitte.

Dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Mojalian, du hältst mich von meiner Arbeit ab!“, sagte sie schmunzelnd, als hätte der Baum die Macht, ihre Verpflichtungen in den Hintergrund treten zu lassen.



Lililja vernahm plötzlich Mojalians Stimme am Baum der Magie.

So, tu ich das? Mojalians Stimme drang unvermittelt in Lililjas Bewusstsein ein, klar und unverkennbar, und vor ihrem inneren Auge sah sie sein sanftes Lächeln.

Erschrocken ließ sie den Baum los, ihre Hand zitterte leicht. War sie dabei, den Verstand zu verlieren?

„Mojalian?“, fragte sie zögernd, doch es blieb still. Zögernd legte sie die Hand wieder auf die raue Rinde des Baumes, als könnte sie so die Verbindung erneut herstellen. „Mojalian?“, wiederholte sie, diesmal mit leiser Hoffnung.

Prompt kam die Antwort: Lililja?

„Wo bist du?“, fragte sie irritiert, ihre Gedanken wirbelten.

Auf Valivisia, entgegnete Mojalian schlicht. Und wo bist du?

„Ich stehe am Baum der Magie, bei dem du einst versucht hast, die Magie zu spüren“, erklärte sie sanft, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Doch dann fiel ihr plötzlich auf, dass die Wesen um sie herum neugierig zu ihr herüberblickten. Sie bemerkten offenbar, dass sie sprach, und das ließ sie innehalten. Irritiert sah sie sich um und spürte eine leichte Wärme in ihrem Gesicht. Verlegen presste sie die Lippen zusammen.

Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Wie kann ich deine Stimme in meinen Gedanken hören? Sie sandte die Frage diesmal nur in ihrem Kopf, unsicher, ob es funktionierte.

Nein, ich glaube nicht, erwiderte Mojalian sachlich, mit der beruhigenden Klarheit, die sie so an ihm schätzte. Denn ich höre auch deine Gedanken, Lililja.

Erleichtert schloss Lililja die Augen und ließ den Kopf gegen den Baumstamm sinken. Die Rinde fühlte sich kühl an ihrer Wange, doch in ihrem Inneren war es warm − als hätte Mojalians Stimme diese Wärme gebracht. Sie genoss die überraschende Nähe, die so unerwartet in ihr Leben zurückgekehrt war, und ließ sich einen Moment lang davon tragen.

Nach einer Zeit wagte sie zu fragen: Bist du noch da?

Ja, erklang es sanft zurück, wie eine Brise, die sie in Gedanken streichelte.

Warum kann ich dich plötzlich wieder hören?, fragte sie schließlich, während sie die Unterhaltung vollständig auf die Gedankenebene verlegte.

Ich weiß es nicht, gestand Mojalian ebenso sanft. Aber ich habe viel an dich denken müssen, Lililja.



Mojalian konnte nicht erklären, warum er und Lililja sich plötzlich wieder hören konnten.

Sein sanftes Lächeln erhellte Lililjas Gesicht. Es war ein Gedanke, den sie nur zu gut kannte. Ich vermisse unsere Gespräche, Mojalian, gestand Lililja schließlich, doch ehe sie den Gedanken zurückhalten konnte, schlüpfte ein weiterer, noch innigerer hinterher: ...und deine Nähe.

In ihrem Geist nahm sie sein sanftes Lächeln wahr, das wie ein Hauch durch die Grenzen der Welten zu ihr drang. Ich vermisse dich ebenso, Lililja, antwortete er, und in seinen Worten lag eine stille Wärme, die sie tief berührte.

Doch plötzlich stieg ein beunruhigender Gedanke in ihr auf, der sie sogleich ängstigte. Glaubst du, dass diese Verbindung zwischen uns nur ein Zufall ist − ein flüchtiges, einmaliges Geschenk?, fragte sie vorsichtig, in der Befürchtung, die Antwort könnte ihr Herz schwerer machen.

Mojalian schwieg einen Moment, und Lililja spürte, wie er nach den richtigen Worten suchte. Schließlich sagte er bedächtig: Das kann ich dir nicht sagen, Lililja. Wir werden abwarten müssen.

Lililja wollte die Verbindung nicht abbrechen, wollte das Gefühl, ihm nah zu sein, noch ein wenig länger festhalten. Fast hastig fragte sie: Wo genau bist du auf Valivisia?

Wieder zögerte Mojalian, als wäre ihm die Antwort unangenehm. Schließlich, mit einem Hauch von Verlegenheit, gab er zu: Ich bin… in einen Baum geschwebt.



Mojalian war auf Valivisia in einen Baum hinein geschwebt.

Die Worte verwirrten sie. Was soll das bedeuten?, fragte sie irritiert. Was meinst du damit: Du bist in einen Baum geschwebt?

Erinnerst du dich daran, wie meine Flügel durch den Baum glitten, als ich damals versucht habe, seine Magie zu spüren?, erklärte er mit ruhiger Stimme. Ich kann einen Baum nicht berühren wie du, Lililja. Aber… Er hielt inne, als müsse er Kraft für das nächste Geständnis sammeln. Schließlich fuhr er fort, leise und zögernd: Ich hatte solch eine Sehnsucht nach dir, dass ich dachte, ich könnte mich in den Baum hineinbegeben und mir vorstellen, wie du ihn berührst.

Lililja spürte die leise Scham, die ihn begleitete, und meinte fast, ihn erröten zu sehen, obwohl sie wusste, dass es nur eine Regung ihrer eigenen Wahrnehmung war. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wie sie auf sein Geständnis reagieren sollte. Schließlich fragte sie sanft: Hast du das heute zum ersten Mal gemacht?

Ja, antwortete er, und in seinen Worten lag eine leise Unsicherheit, die Lililja überraschte.

Ich berühre deinen Baum täglich, seitdem du fort bist, gestand sie ihrerseits, ihre Gedanken beinahe ebenso scheu wie seine. Ich habe immer das Gefühl, dass du mir hier ganz nah bist.

Lililja wurde sich plötzlich der Zeit bewusst, die sie hier, am Baum, schon verbracht hatte. Was, wenn jemand sie beobachtete? Was würden die anderen denken, wenn sie sahen, wie sie scheinbar mit einem Baum sprach? Doch der Gedanke, die Verbindung zu Mojalian zu unterbrechen, schmerzte sie zutiefst.

Mojalian, begann sie leise.

Ja, Lililja?, erwiderte er, seine Stimme so sanft wie zuvor.

Wie ich schon sagte: Du hältst mich von meiner Arbeit ab, fuhr sie fort, ein kleines Lächeln in ihrem Inneren spürend, auch wenn sie wusste, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen.

Und wie ich bereits fragte, antwortete er mit einem leichten, spürbaren Lächeln, so, tu ich das?

„Ja“, hauchte sie, und mit Bedauern fügte sie hinzu: Ich werde den Baum jetzt loslassen… und hoffe, dass diese Verbindung morgen wiederkehrt.



Lililja wollte Mojalian nicht gehen lassen.

Das ist in Ordnung, Lililja, sagte Mojalian, und in seinen Gedanken klang eine Zärtlichkeit mit, die sie tief berührte. Ich werde mich ebenfalls zurückziehen. Aber falls diese Verbindung nicht erneut zustande kommen sollte, möchte ich, dass du etwas weißt: Auf Valivisia gibt es jemanden, der eine unermessliche Sehnsucht nach dir trägt.

Mit diesen letzten Worten spürte Lililja, wie die Verbindung zu Mojalian leiser wurde, sich auflöste wie ein Traum, der im Erwachen verblasst. Sie ließ ihre Hand sinken, stand still, den Blick auf den Baum gerichtet, als hielte er noch immer das Echo jener vertrauten Nähe fest.



Lililja hoffte, dass sich am nächsten Tag
der Kontakt zu Mojalian wieder herstellte.

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