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Als Lililja sich an jenem Abend mit Rafyndor traf, war ihr Geist abwesend, ihre Gedanken wie vom Wind verweht. Der unerwartete Kontakt mit Mojalian hatte sie derart überwältigt, dass sie Mühe hatte, ihre Aufmerksamkeit auf Rafyndor zu lenken. Immer wieder kehrte sie in ihren Gedanken zu Mojalian zurück, wie ein Schiff, das unablässig zu einem vertrauten Hafen strebt.
Würden sie sich morgen erneut hören können? Diese Hoffnung brannte in ihrem Inneren wie eine kleine, hartnäckige Flamme. Seine Stimme in ihrem Geist zu spüren, hatte ihr eine tief empfundene Freude bereitet, eine Nähe, die sie lange vermisst hatte. Und dann waren da seine Worte zum Abschied gewesen, Worte, die in ihr widerhallten wie ein zartes Echo: Auf Valivisia gibt es jemanden, der eine unermessliche Sehnsucht nach dir trägt.
Ja, Mojalian, dachte sie bei sich, und in Vanavistaria ist jemand, der dich ebenso schmerzlich vermisst.
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Rafyndor bemerkte während des Abendganges Lililjas geistige Abwesenheit.
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Rafyndor blieb ihre Zerstreutheit nicht verborgen. Während er von Rangalos neuestem Streich erzählte − wie dieser Mikons Rückzugsort mit Blumen und Federn ausgepolstert hatte − zeigte Lililja keinerlei Reaktion. Normalerweise hätte sie darüber gelacht oder zumindest neugierige Fragen gestellt, doch heute war ihr Geist wie in Nebel gehüllt.
„Wo bist du gerade mit deinen Gedanken?“, fragte Rafyndor und musterte sie mit gerunzelter Stirn.
Lililja fühlte sich ertappt und senkte den Blick. „Ich?“, begann sie zögernd, suchend nach einer glaubwürdigen Antwort.
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„Ich hatte heute einen sehr aufregenden Tag“, sagte sie schließlich, bemüht, ruhig zu wirken. „Es fällt mir schwer, das loszulassen.“
Rafyndor schmunzelte und fragte mit einem augenzwinkernden Lächeln: „Was war denn so aufregend, dass ich nur zur Nebenfigur degradiert werde?“
Lililja öffnete den Mund, um ihm von ihrer Verbindung zu Mojalian zu erzählen, doch im letzten Moment hielt sie inne. Die Erinnerung an Rafyndors Reaktion, als sie ihm einst von ihrer ersten Begegnung mit Mojalian berichtet hatte, ließ sie zögern. Hektisch durchsuchte sie ihre Gedanken nach einem anderen Vorwand, einer weniger heiklen Erklärung.
Schließlich, zum ersten Mal, seit sie Rafyndor kannte, entschied sie sich, ihn anzulügen: „Ich habe eine Lilochoda abgeknickt und musste mir von Pureus eine ordentliche Standpauke anhören“, erklärte sie mit gespieltem Bedauern. „Das hat mich ziemlich mitgenommen.“
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Rafyndor blickte sie überrascht an. „Du hast schon häufiger Standpauken bekommen, Lililja, und solche Dinge haben dich nie aus der Fassung gebracht. Was war diesmal anders?“
Lililja spürte, wie sein Blick forschend auf ihr ruhte. Sie konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Eine leise Unruhe regte sich in ihr, und ihr kam der Gedanke, dass Rafyndor sich vielleicht ähnlich gefühlt haben musste, als er seine Gefühle für sie entdeckte. Unwillkürlich wanderte ihre Erinnerung zurück, zu jener Zeit vor dem Schleiersturm und dem Mondspiegelteich.
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Lililja schwindelte Rafyndor vor, dass sie angeblich von Pureus ausgeschimpft worden wäre.
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„Denkst du noch oft an Mojalian?“, fragte sie plötzlich, um von sich abzulenken.
Rafyndor wirkte irritiert von ihrem abrupten Themenwechsel, doch er antwortete ehrlich: „Ja. Ich denke oft an ihn. Er fehlt mir. Ich habe viele Gespräche mit ihm geführt. Mojalian war ein ausgezeichneter Zuhörer.“
„Das war er“, stimmte Lililja zu. „Ich vermisse ihn auf meinen Morgengängen. Seine besondere Sicht auf die Welt hat mir so oft neue Perspektiven eröffnet.“
Rafyndor lief neben ihr her, doch sein Schritt schien sich unmerklich zu verändern, als hätten ihre Worte eine Saite in ihm berührt, die er selbst nicht anstimmen wollte. Lililja spürte die Veränderung und wusste, dass sie ihm nichts von ihrem neuen Kontakt zu Mojalian erzählen durfte. Sie wollte ihn nicht verletzen, und so entschied sie sich, das Geheimnis zu bewahren.
Um die angespannte Stimmung zu lösen, wechselte sie erneut das Thema. „Drei Monate sind nun vergangen, seit wir die Aufgabe gelöst haben“, sagte sie. „Noch neun Monate müssen wir warten, bis wir wissen, ob es wirklich die richtige Aufgabe war.“
Rafyndor warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Denkst du, dass wir die falsche Aufgabe gelöst haben?“
„Nein“, entgegnete sie mit fester Überzeugung. „Ich glaube, dass es unsere Bestimmung war, Mojalian nach Valivisia zurückzuschicken. Aber sicher wissen werden wir es erst, wenn der Hauchzauberdunst erscheint.“
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Lililja konnte sich endlich wieder auf Rafyndor konzentrieren.
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Mit diesen Worten zwang sie sich, ihre Gedanken von Mojalian zu lösen und sich ganz auf Rafyndor zu konzentrieren. Er hatte es nicht verdient, ihre Zeit mit dem Geisterwesen teilen zu müssen − nicht mit jemandem, der in einer fernen Welt lebte. Während sie gemeinsam durch das Zentrum der Hellen Magie schlenderten, legte sie all ihre Aufmerksamkeit in das Hier und Jetzt, so wie er es verdiente.
Der Rest ihres Spaziergangs verlief in der vertrauten Harmonie, die Lililja so schätzte. Rafyndor wirkte wieder gelöster, und als sie sich zum Abschied umarmten, sagte er mit einem milden Lächeln: „Ich glaube, ganz Vanavistaria vermisst Mojalian.“
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Lililja nickte stumm, spürte den bittersüßen Stich seiner Worte und sah ihm nach, als er sich schließlich entfernte.
Am nächsten Morgen führte Lililja ihre übliche Morgenrunde durch, doch als sie den Baum der Magie erreichte, schlug ihr Herz schneller. Wie an jedem Tag legte sie die Hand an den uralten Stamm, doch heute war ihre Geste von einer ungewohnten Nervosität begleitet. Der Gedanke, dass Mojalian nicht antworten könnte, hielt sie davon ab, direkt nach ihm zu rufen − die Furcht vor der Enttäuschung war zu groß.
Stattdessen sagte sie, kaum dass ihre Finger die raue Rinde berührten, mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme: „Guten Morgen.“
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Unverzüglich erklang Mojalians sanfte Antwort in ihren Gedanken: Guten Morgen, Lililja.
Ein Stein fiel ihr vom Herzen, doch gleichzeitig begann dieses wild zu klopfen. Die Verbindung war noch da − die Magie zwischen ihnen hatte nicht nachgelassen!
Erleichtert und zugleich überwältigt von diesem Moment lehnte sie ihre Stirn an den Stamm des Baumes, suchte Halt bei ihm, während die Emotionen in ihr tobten. Nach einer Weile flüsterte sie kaum hörbar: „Ich habe heute Nacht von dir geträumt.“
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Lililja fiel ein Stein vom Herzen, als sie erneut Mojalians Stimme vernahm.
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Waren es schöne Träume?, fragte Mojalian, und die Zärtlichkeit in seiner Stimme ließ einen warmen Schauer über ihren Körper gleiten.
Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, antwortete sie mit leisem Bedauern. Ich erinnere mich nur daran, dass du in meinem Traum warst und dass ich so glücklich war, dich bei mir zu wissen. Aber dann bin ich aufgewacht... und da war nur der schmerzliche Gedanke, wie unerreichbar weit du entfernt bist.
Das ist unser Schicksal, antwortete Mojalian mit einer Melancholie, die ihre eigene Traurigkeit spiegelte.
Eine Weile schwiegen sie beide, verbunden durch die Stille, die sich wie ein zarter Schleier um sie legte. Schließlich sprach Lililja, ihr Ton nachdenklich: Ich glaube, Rafyndor vermisst dich auch. Doch ich kann ihm nicht sagen, dass wir wieder miteinander sprechen. Als ich ihm gestern Abend gestand, wie sehr ich dich vermisse, wurde er sofort still, und seine Stimmung sank.
In ihren Gedanken meinte sie, Mojalian mild lächeln zu sehen.
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Lililja wollte wissen, was Mojalian beim Abschied angedeutet hatte.
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Da fiel ihr plötzlich eine Frage ein, die sie lange beschäftigt hatte: Übrigens, was sollten eigentlich diese rätselhaften Andeutungen bei deinem Abschied? Ich habe lange darüber nachgegrübelt.
Welche Andeutungen?, fragte Mojalian, scheinbar nachdenklich.
Du sagtest, ich trüge eine große Verantwortung und solle auf mich und die, die ich liebe, aufpassen.
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Mojalian zögerte, und Lililja konnte die Pause zwischen ihren Gedanken fast greifen. Schließlich antwortete er, sanft und vorsichtig: Das möchte ich dir jetzt noch nicht erklären.
Noch nicht?, wiederholte sie, überrascht.
Eines Tages, fuhr Mojalian fort, werde ich dir sagen, was ich damit meinte. Aber noch ist die Zeit nicht gekommen. Es ist noch nicht wichtig.
Lililja wollte protestieren, wollte ihn drängen, doch die Sanftheit in seiner Stimme hielt sie davon ab. Sie ließ die Worte in sich sinken, entschied sich, seinem Wunsch nachzugeben. Es würde eine Zeit kommen, in der sie die Wahrheit erfahren würde.
Nach einer Weile fragte sie unsicher: Glaubst du, dass diese Verbindung bleiben wird?
Ich denke schon, antwortete Mojalian, und in seiner Stimme lag Zuversicht. Immerhin können wir schon seit zwei Tagen die Gedanken des anderen hören. Einen Moment verharrte er, bevor er mit Zärtlichkeit hinzufügte: Und darüber bin ich unendlich glücklich.
Lililja meinte, in ihren Gedanken sein Lächeln zu spüren − ein Lächeln, das sie wie ein warmes Licht umhüllte.
Ich werde jetzt meine Morgenrunde fortsetzen, sagte sie schließlich mit einem Seufzen, das nicht nur Bedauern, sondern auch den Wunsch nach Verweilen verriet. Bist du noch hier, wenn ich zurückkomme?
Ich werde immer hier sein und auf dich warten, erwiderte Mojalian, seine Stimme von einer solch innigen Zärtlichkeit durchdrungen, dass Lililja glaubte, der Wind, der sanft über ihre Wange strich, trüge den Hauch eines Kusses von ihm.
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Von jenem Tage an wurden Lililjas Besuche beim Baum der Magie zur liebgewonnenen Gewohnheit. Mehrmals täglich trafen sie und Mojalian dort zusammen, um einander von ihren Erlebnissen zu berichten oder, wie in früheren Zeiten, über die verschiedensten Dinge zu philosophieren und ihre oft unterschiedlichen Ansichten auszutauschen.
Einige Bewohner Vanavistarias beobachteten die wiederholten Besuche der Hüterin mit leiser Verwunderung. Doch anstatt Fragen zu stellen, nahmen sie an, dass der Baum, der ein uraltes Symbol der Harmonie und Macht war, neuerdings vielleicht besondere magische Ströme offenbare − eine Erklärung, die sie zufriedenstellte und ihre Neugier besänftigte.
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Lililja und Mojalian trafen sich mehrmals täglich am Baum der Magie.
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So verstrichen die Tage, jeder gesäumt von Lililjas stiller Freude über die Verbindung, die sie zu Mojalian wiedergefunden hatte. Mit der Zeit passte sie ihren Alltag an, um diesen wertvollen Augenblicken mehr Raum zu geben. Nach dem Sonnenaufgang widmete sie sich zuerst den Aufgaben, die ihre Pflichten als Hüterin verlangten, bevor sie schließlich zum Baum der Magie eilte, wo Mojalian geduldig auf sie wartete. So bewahrte sie die Balance zwischen ihren Verantwortungen und dem Drang ihres Herzens, dem Geisterwesen so nah wie möglich zu sein.
An diesem Morgen jedoch − es waren nunmehr über zwei Monate vergangen, seit die Verbindung auf so wundersame Weise erneuert worden war − geschah etwas, das alles veränderte. Nach der Dämmerung begab sich Lililja wie üblich zum Bach an der Sonnenwiese, dessen glitzernde Wasser seit jeher den harmonischen Fluss der Magie widerspiegelten. Sie tauchte ihre Hand in das klare, kühle Nass, um dessen Energie zu prüfen – eine tägliche Geste, so selbstverständlich wie das Atmen. Doch heute hielt sie inne.
Da war etwas.
Ihre Fingerspitzen zitterten leicht, und ein unheilvolles Gefühl kroch in ihre Gedanken. Hastig wiederholte sie die Geste, ließ die Magie durch ihre Sinne strömen – und dieses Mal erfasste sie es eindeutig: Eine Veränderung. Dunkle Magie hatte den Fluss berührt.
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Lililja spürte im Bach an der Sonnenwiese einen veränderten Magiefluss.
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Lililjas Atem stockte. Der Schock fuhr ihr durch Mark und Bein. Dunkle Magie? In all den Jahren, in denen sie die Hüterin der Natur und der Magie gewesen war, hatte sie niemals eine solche Störung erlebt. Es war unbegreiflich.
Plötzlich erklang Mojalians Stimme in ihrem Geist, besorgt und drängend: Lililja, was ist geschehen?
„Dunkle Magie“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Irgendjemand, der den Schwur des Lichts geleistet hat, hat dunkle Magie benutzt!“
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Die Besorgnis in Mojalians Tonfall wandelte sich augenblicklich in wachsame Anspannung. Bist du sicher? Was genau hast du gespürt?
„Ich weiß es noch nicht“, erwiderte sie tonlos, ihre Gedanken wirr vor Erschütterung. „Nur eine leichte Veränderung des Magieflusses… aber sie ist da.“
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Mojalian schien für einen Moment nachzudenken, und in diesem Augenblick kehrte ein wenig Klarheit in Lililjas Geist zurück. Mit seiner beruhigenden Präsenz half er ihr, ihre Fassung wiederzugewinnen. Doch dann fiel ihr plötzlich etwas auf, das sie noch mehr verwirrte.
Mojalian… warum höre ich dich? Ich bin nicht am Baum.
Mojalian zögerte kurz, ehe er antwortete: Was meinst du?
Ich bin an der Sonnenwiese, erklärte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. Und doch kann ich deine Gedanken hören. Wie ist das möglich?
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Plötzlich konnte Lililja Mojalian an der Sonnenwiese hören.
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Nachdenklich überlegte Mojalian: Es scheint, als hätte dein Erlebnis unsere Verbindung erweitert. Ich spürte deine Erschütterung − sie war so stark, dass ich fürchtete, dir sei etwas zugestoßen. Instinktiv rief ich nach dir und machte mich auf den Weg zum Baum der Magie. Doch noch bevor ich ihn erreichte, hörte ich bereits deine Antwort.
Lililja war für einen Moment sprachlos. Diese neue Dimension ihrer Verbindung zu Mojalian war so unerwartet wie bedeutsam. Dennoch blieb die Sorge über die dunkle Magie drückend in ihrem Geist.
Es ist das erste Mal, sagte sie nervös, dass ich direkt mit dunkler Magie konfrontiert werde. Ich muss zu Meister Lehakonos. Er muss davon erfahren! Entschlossen sprang sie auf, bereit, ihren Pflichten nachzukommen.
Lililja. Mojalians Stimme drang erneut in ihre Gedanken, diesmal zärtlich und beschwichtigend. Wenn sich der Magiefluss nur leicht verändert hat, ist es gut möglich, dass jemand lediglich aus Neugier mit dunkler Magie experimentiert hat. Natürlich musst du deine Beobachtungen weitergeben, aber übermäßige Besorgnis ist im Moment nicht notwendig. Beobachte den Fluss weiter. Wenn sich die Veränderungen verstärken, kannst du die nötigen Schritte unternehmen. Doch jetzt… bleib ruhig.
Seine Worte, so ruhig und durchdacht, wirkten wie Balsam auf ihre angespannten Gedanken. Sie atmete tief durch und nickte, auch wenn sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Du hast recht, sagte sie schließlich, ihre Stimme nun gefasster. Ich werde es weiter beobachten.
Die beunruhigenden Schatten des Morgens schienen sich ein wenig zu lichten, während sie Mojalians sanfte Präsenz in sich spürte − ein Licht, das sie inmitten des aufziehenden Unheils tröstete.
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Mojalian versuchte Lililja zu beruhigen und teilte ihr mit, dass es noch nicht besorgniserregend war.
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