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Nachforschungen


Lililja begann, ihre Wahrnehmungen vom Abendspaziergang zu schildern.
„Meister Lehakonos“, hob Lililja an, ihre Stimme von einem Hauch innerer Unruhe durchzogen, „während unseres abendlichen Spaziergangs stießen wir auf seltsame Begebenheiten, die uns Rätsel aufgeben. Die Luft selbst schien eine kaum hörbare, jedoch überwältigend schöne Melodie anzustimmen. Es war, als ob alles Leben um uns − die Pflanzen, die Wesen des Waldes − dieser Klänge lauschte und darauf reagierte. Selbst wir konnten uns der Wirkung nicht entziehen. Diese Melodie erfüllte uns mit einer zugleich beruhigenden und belebenden Kraft, und sie hallt noch immer in meinem Inneren nach.“

Rafyndor nickte, seine Augen leuchteten vor ungläubigem Staunen. „Auch ich spüre diese Melodie weiterhin in mir widerhallen“, fügte er hinzu. „Es war überwältigend: Die Farben der Pflanzen wurden intensiver, die Glimmkidos wirbelten in Scharen im Rhythmus der Musik umher − ein Anblick, der den Atem raubte! Die Luft war durchdrungen von purer Magie!“

Meister Lehakonos lauschte den Worten seiner ehemaligen Schüler mit der tiefen Aufmerksamkeit, die ihm eigen war. Dabei strich er sich gedankenverloren über seinen grauen Bart, während sein Blick in die Ferne glitt. „Die Luft war erfüllt von Magie“, murmelte er leise vor sich hin, als wolle er die Worte Rafyndors in seinem Geist wie einen Zauber beschwören. Dann verstummte er, ließ seine Gedanken schweifen, so wie er es schon oft getan hatte, wenn ihn ein Geheimnis herausforderte.

Lililja und Rafyndor verharrten reglos. Sie kannten die stille Einkehr ihres alten Lehrmeisters nur zu gut und wussten, dass ein Eingreifen in diesem Moment nur seine Gedanken stören würde. Geduldig warteten sie, während er in seinem Inneren die alten Schriften durchforstete, die er über die Jahre studiert hatte.

Nach einer Weile kehrte Meister Lehakonos aus seiner Versunkenheit zurück. Ein mildes Lächeln erhellte sein Gesicht, und mit der gemessenen Würde, die ihn auszeichnete, erhob er sich von seinem Stuhl und trat auf die beiden zu.

„Lililja, Rafyndor“, begann er mit sanfter Stimme, „das, was ihr erlebt habt, erinnert mich an ein seltenes Naturphänomen, das nur ungefähr alle zweihundert Jahre in Vanavistaria eintritt. Es scheint, als wäre die Zeit für dieses Ereignis erneut gekommen. Wenn meine Vermutung richtig ist, stehen wir vor einer besonderen Prüfung. Die Zaubergemeinschaft wird ihren Zusammenhalt und ihre Stärke unter Beweis stellen müssen. Sollte uns dies gelingen, wird der Hauchzauberdunst über unser Land kommen − ein magischer Nebel, der für kurze Zeit alles Leben durchströmt und mit positiver Energie erfüllt.“



Meister Lehakonos hatte eine Ahnung davon, was die seltsamen Naturphänomene bedeuten könnten.

Die beiden jungen Zauberwesen sahen sich an, Staunen und Aufregung in ihren Blicken. Eine solch bedeutende Zeit lag vor ihnen − ein Ereignis, das mit Herausforderungen und Wundern gleichermaßen erfüllt zu sein schien.

Meister Lehakonos fuhr nachdenklich fort: „Doch leider entzieht sich mir ein Teil des Wissens darüber. Vor vielen Jahren las ich einmal von diesem Phänomen. Aber ich kann mich nicht erinnern, in welchem Buch oder auf welcher Schriftrolle diese Aufzeichnungen standen.“ Seine Stirn legte sich in Falten, während sein Blick prüfend durch das Studierzimmer wanderte, über die dicht gefüllten Regale, die alten Schriftrollen und jeden Winkel dieses ehrwürdigen Raumes.

Nach einem Moment des Schweigens richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Besucher. Mit einem entschuldigenden Lächeln sprach er: „Ich danke euch, dass ihr unverzüglich zu mir gekommen seid, um mir von euren Beobachtungen zu berichten. Wenn ihr einverstanden seid, werde ich Nanistra bitten, euch hinauszubegleiten. Ich werde sogleich mit der Suche nach den entsprechenden Schriften beginnen. Morgen hoffe ich, die Zaubergemeinschaft über die Zeit der Prüfung in Kenntnis setzen zu können. Sollte meine Vermutung zutreffen, müssen wir uns intensiv vorbereiten.“



Nanistra kam herein, um die Gäste wieder zur Tür zu begleiten.

Kaum hatte er Nanistras Namen ausgesprochen, ertönte ein leises Klopfen an der Tür. Die alte Dienerin, wie immer ein Bild mürrischer Würde, trat ein.

Die magische Verbindung, die zwischen dem Hohenmagier und seiner Dienerschaft bestand, ermöglichte es ihr, seinen Ruf augenblicklich zu vernehmen, ganz gleich, wo sie sich im Anwesen aufhielt. Diese besondere Verbindung war durch einen uralten Zauberschwur entstanden, den Nanistra geleistet hatte, als Meister Lehakonos vor vielen Jahren in das Anwesen eingezogen war.

Damals, nach dem Tod des angesehenen Hohenmagiers Siksanthador, war Meister Lehakonos, wider Erwarten und ohne eigenes Streben, in dieses höchste Amt gewählt worden. Sein Ruf als weiser Lehrer und seine unermüdliche Hingabe an die Zaubergemeinschaft hatten ihn für diese Rolle prädestiniert.

Nanistra hatte ihn damals an der Tür mit den Worten des Schwurs empfangen: „Dem Meister, dessen Weisheit ich suche, biete ich meine Treue, meine Dienste und mein Herz dar. Für alle Tage, die ich in diesem Haus verweile, bin ich ihm gewidmet.“

Mit sanfter, jedoch fester Stimme hatte Meister Lehakonos geantwortet: „Die Treue, die du anbietest, sei unser Band. In Weisheit und Wissen möge unser Weg ein gemeinsamer sein. Deine Dienste sind angenommen, und deine Hingabe wird geachtet.“

Dieser Schwur hatte eine lebenslange, magische Bindung zwischen Dienerin und Meister geschaffen, die nur durch den Tod einer der beiden gelöst werden konnte.



Als Meister Lehakonos vor Jahren in das Anwesen zog, wurde eine besondere magische Verbindung zwischen Nanistra und ihm hergestellt.

Nun begleitete Nanistra, wie gewohnt in ihrer schroffen, jedoch loyalen Art, die jungen Zauberwesen zur Tür, nachdem Meister Lehakonos sich herzlich von Lililja und Rafyndor verabschiedet hatte.

Der alte Lehrmeister jedoch machte sich sogleich an die Suche nach den verschollenen Aufzeichnungen. Sein Blick glitt prüfend über die Regale, doch es war lange her, dass er die Schriften gesehen hatte. Es war unwahrscheinlich, dass sie griffbereit auf seinem Schreibtisch lagen − doch Meister Lehakonos war fest entschlossen, die Antworten zu finden, die Vanavistaria in diesen außergewöhnlichen Zeiten so dringend benötigte.



Langsam wanderte Meister Lehakonos an den Regalen entlang.

Bedächtigen Schrittes durchmaß Meister Lehakonos sein Studierzimmer. Seine Augen glitten prüfend über die Reihen der Regale, erfassten die Titel der ehrwürdigen Bände und die Beschriftungen längst vergessener Schriftrollen.

Hin und wieder nahm er eines der fragilen Pergamente zur Hand, entrollte es mit einer Sorgfalt, die nur ein Gelehrter seines Formats aufbrachte, nur um mit leisem Bedauern festzustellen, dass es nicht das Gesuchte war.


Er öffnete Schubladen, die seit Jahren unberührt geblieben waren, und tauchte seine suchenden Hände in deren staubige Inhalte. Sogar zwei massive Truhen, deren gewichtige Deckel er nur mit Mühe anheben konnte, inspizierte er, obwohl ihm insgeheim bewusst war, dass die erhoffte Aufzeichnung sich dort kaum finden lassen würde. Selbst die schmalen Fensternischen, in denen sich Bücher und Schriftrollen chaotisch türmten, ließ er nicht unberührt. Doch das gesuchte Dokument blieb verborgen, als habe es sich entschieden, seiner Entdeckung zu entziehen.

Ratlos hielt Meister Lehakonos inne, seine Gedanken um die quälende Frage kreisend: Wo nur hatte er es einst gefunden? Schließlich stellte er sich in die Mitte des Raumes, schloss für einen Augenblick die Augen und atmete tief durch. Als er seine Augen wieder öffnete, drehte er sich langsam um die eigene Achse, seinen Blick scharf auf jedes Detail gerichtet. Jedes Regal, jede Schublade, jede Ecke des Raumes wurde erneut inspiziert, bis sein Blick an einem alten, zerfledderten Pergament hängen blieb, das in der Dunkelheit eines unteren Regalfaches verborgen lag.

Ein triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Behutsam zog er die Rolle hervor, die zwischen anderen Schriften verborgen gewesen war, und trug sie mit einer Ehrfurcht, als handele es sich um einen Schatz, zum Schreibtisch. Er räumte die dort liegenden Bücher und Schriftstücke beiseite und entrollte das Pergament mit größter Vorsicht. Das Material zeigte sich brüchig, und die Schrift war an einigen Stellen kaum noch zu entziffern − ein stiller Zeuge seines langen Bestehens. Doch Meister Lehakonos′ erfahrene Augen erkannten sofort: Dies war die Schriftrolle, nach der er gesucht hatte.

Mit jener Begeisterung, die nur aus der Kombination von Wissen und Entdeckungslust entsteht, vertiefte er sich in die alte Aufzeichnung.

Es handelte sich um eine Sammlung von Legenden und Berichten, die sich um den geheimnisvollen Hauchzauberdunst rankten. Sie war von Generation zu Generation ergänzt worden, immer dann, wenn dieses seltene Naturphänomen aufgetreten war.

Die Zeilen erzählten von einer Magie, die nur durch harmonische Zusammenarbeit erweckt werden konnte.



Meister Lehakonos legte die Schriftrolle auf seinen Schreibtisch.

Meister Lehakonos erinnerte sich daran, dass während der Ära des Zerwürfnisses, als die magischen Völker voneinander isoliert lebten, der Hauchzauberdunst nicht erschienen war. Es fehlte die kollektive Energie der Einigkeit, die ihn hätte herbeirufen können.



Die 11 magischen Völker Vanavistarias:
Berggeister, Erdgeister, Vykati,
Goblins, Elfen, Waldgeister,
Flussgeister, Moorgeister, Steppengeister,
Lichtgeister und Nymphen

Der alte Lehrmeister studierte weiter und las von Prüfungen, die mit dem belebenden Nebel belohnt wurden, und von solchen, die im Scheitern endeten und Enttäuschung hinterließen.

Nachdenklich betrachtete er den historischen Zusammenhang: Die Aufzeichnungen ließen keinen Zweifel daran, dass der Bruch zwischen den Völkern einst das Resultat einer gescheiterten Prüfung gewesen war. Doch dieses Wissen war nur wenigen Eingeweihten bekannt. Erst nach der Wiedervereinigung im Jahr 3821 hatte sich die Welt langsam von ihrer Zerrissenheit erholt, bis der Hauchzauberdunst sich im Jahr 3924 erneut zeigte.

Sein letztes Erscheinen lag nun 197 Jahre zurück, im Jahr 4119. Und jetzt, so schien es, kündigte er sich ein weiteres Mal an.

Sein Geist arbeitete fieberhaft. Der Gedanke drängte sich auf, dass die Zaubergemeinschaft über die Bedeutung des Zusammenhalts aufgeklärt werden musste − sowohl um die Prüfungen zu bestehen als auch, um der Gefahr der Entzweiung vorzubeugen.

Plötzlich stieß er auf eine Prophezeiung. Die Worte, die in rätselhafter Schönheit auf das Pergament gemalt waren, flüsterten eine geheimnisvolle Botschaft:

„Wenn die Lüfte summen und die Natur in Liedern erwacht,
kündigt sich jenes Mysterium an, der Hauchzauberdunst.

Doch merket wohl, vor ihm zieht der Schleiersturm,
ein Wirbel magisch, Bote einer Aufgabe,
die die Seelen und Gemeinschaft der Völker
auf Herz und Zusammenhalt prüft.

Wenn gelöst mit Stärke und Gemeinschaft,
im folgenden Jahr wird der
Hauchzauberdunst in Gnaden fallen,
beseelend jedes Wesen und es stärkend.

Doch bis dahin, im Schatten der Unwissenheit gehüllt, werden Vanavistarias Bewohner harren,
ob sie die rechte Aufgabe entschlüsselt haben,
ein Jahr des Hoffens, ein Jahr des Bangens.

(Tarodastrus, der Sternenseher
während der Blütezeit im Äon des leuchtenden Himmels)“




Meister Lehakonos hatte die Prophezeiung gefunden, nach der er gesucht hatte.

Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des alten Lehrmeisters, als sein Blick auf die Signatur fiel: Tarodastrus, der Sternenseher. Natürlich war es seine Handschrift. Kein anderer als der größte Prophet Vanavistarias hätte solch eine Weissagung niederschreiben können.



Tarodastrus, der Sternenseher, war ein Vykati und hinterließ viele Prophezeiungen.

Dem alten Lehrmeister fielen wieder die Geschichten ein, die sich um Tarodastrus rankten − insbesondere jene Legende, die von einem außerweltlichen Wesen namens Resogurion erzählte, das den Sternenseher mit Prophezeiungen gespeist haben sollte. Mit einem milden Kopfschütteln wies Meister Lehakonos diese Mär als Aberglauben ab.

Die Aufgabe, so erkannte er nun, würde eine Herausforderung sein, die das Gemeinschaftsgefühl der Zauberwesen auf eine harte Probe stellte. Doch seine Gedanken wanderten zu Gamdhod, jenem verbitterten Goblin, der sich seit Langem aus der Zaubergemeinschaft zurückgezogen hatte. Würde eine solche Prüfung an seinem Widerstand scheitern?

„Nanistra“, murmelte Meister Lehakonos nachdenklich, „ich bräuchte mal deine Meinung.“

Kurz darauf klopfte es leise an der Tür, und Nanistra, gebeugt, doch mit wachsamen Augen, trat ein.

„Kannst du dich an Gamdhod, den alten Goblin, erinnern?“ fragte der alte Lehrmeister.

Nanistra nickte, ihre Miene war eine Mischung aus Verwirrung und Abneigung. „Natürlich“, sagte sie zögernd. „Was ist mit ihm?“

„Weißt du noch, warum er die Gemeinschaft verlassen hat?“

„Gamdhod war nie ein Teil von uns“, erklärte Nanistra mit bitterem Ton. „Er war stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht, auf Schätze und Betrug. Er hat keine Freundschaft gesucht, nur Werkzeuge für seine Zwecke. Irgendwann vertraute ihm niemand mehr, und schließlich zog er sich in die Wälder zurück. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.“

Gamdhod hatte sich immer nur für Schätze interessiert, nie für andere Wesen.

Meister Lehakonos nickte langsam. „Glaubst du, dass er an einer Aufgabe teilnehmen würde, die die Gemeinschaft fordert?“

„Niemals“, entgegnete Nanistra mit unerschütterlicher Gewissheit. „Wenn überhaupt, dann würde er alles tun, um unser Scheitern herbeizuführen.“

Ein tiefes Seufzen entwich dem alten Lehrmeister. „Ich danke dir, Nanistra. Du kannst für heute ruhen.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, blickte Meister Lehakonos lange auf die Prophezeiung, die vor ihm lag. In seinen Gedanken widerhallten die Worte Tarodastrus′. Wenn Gamdhod die Gemeinschaft sabotierte, war die Prüfung verloren. Doch vielleicht, so hoffte er, würde die Prophezeiung nur jene meinen, die wirklich Teil der Gemeinschaft waren.

Mit dieser Hoffnung löschte er die Kerzen und bereitete sich auf eine unruhige Nacht vor.


Die Nacht senkte sich über Vanavistaria.

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