zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis2b) Der Schleiersturm


Der Schleiersturm

Während sich alle Wesen, die keine aktive Rolle während des nahenden Schleiersturms übernahmen, in den Schutz der Gebäude und Höhlen zurückzogen, verstärkten jene, die zu handeln bestimmt waren, ihre Anstrengungen. Die Steinwächter nahmen ihre festen Posten an den Gebäuden ein, die Wasserschützer bezogen Stellung an den Ufern der Seen und Flüsse, während die Erdwächter über die Felsen in den Wäldern und Parks wachten. Indessen begannen die Nymphen mit einem sanften, rhythmischen Tanz auf den Seerosenblättern, der die Wasser beruhigen sollte.



Die Zauberweisen ließen einen Schutzschirm über der Hauptstadt Vanavistarias entstehen.

Am Zauberbogenweiher hatten sich die Zauberweisen entlang der Uferlinie verteilt.

Mit ausgebreiteten Armen richteten sie ihre gebündelte Konzentration auf die Schaffung eines Schutzschirmes, der sich wie ein unsichtbares Gewölbe von hier aus über das gesamte Zentrum der Hellen Magie erstrecken würde.

Ein leises, vibrierendes Summen durchzog die Luft, als sich ein Netz aus Magie spann und von Grenze zu Grenze reichte, die gesamte Hauptstadt und ihre hohen Bäume unter sich schützend einschloss.

Der Schleiersturm, als ob er die Vollendung der Schutzmaßnahmen gespürt hätte, überwand die äußeren Bäume des Waldes und stürzte sich mit unbarmherziger Wucht über das Zentrum der Hellen Magie. Alles, was nicht unter dem Schutzschirm lag, wurde von seinem unaufhaltsamen Zug hinweggerissen, zurück blieb eine gähnende Leere. Er raste von Nord nach Süd, von West nach Ost, prüfte jede Erhebung und jede Grenze des magischen Schildes, als suche er nach Schwachstellen.

Nachdem der Sturm seine zerstörerische Prüfung abgeschlossen hatte, wandte er sich dem Zauberbogenweiher zu und hielt dort inne, als hätte er seine Position gefunden. Er verweilte über dem See, ein unermüdlicher, wirbelnder Monolith aus Wind und Magie.

Die Zauberweisen konzentrierten sich mit aller Kraft auf die Stabilität des Schutzschirmes. Sie hatten bemerkt, dass der Schleiersturm untypisch agierte: Er zog nicht in einer einzigen, vorhersehbaren Bahn, sondern wütete wiederholt über der Hauptstadt, kehrte an den Waldrändern um und setzte erneut zum Sturm an. Dass er nun über dem Zauberbogenweiher verharrte, erfüllte sie mit Unbehagen. Prüfend schien er ihre Entschlossenheit und die Grenzen ihrer Magie auszuloten.

Lililja schloss die Augen, um ihre Magie mit größter Konzentration auf den Schutzschirm zu lenken.



Der Schleiersturm setzte sich am Zauberbogenweiher fest.

Doch plötzlich drängte ein Gedanke in ihr Bewusstsein, klar und störend: Hilfe! Hilf mir doch jemand! Ein Frösteln durchzog sie, doch sie schob den Impuls beiseite und versuchte, ihren Fokus zurückzugewinnen. Doch erneut hallte der Ruf in ihrem Geist wider: Hilfe! Warum hilft mir niemand?

Ihre Gedanken verwirrten sich, während sie mühsam die Disziplin ihrer Magie aufrechterhielt. Neben ihr stand Jadoruc und bemerkte die Unsicherheit der jungen Elfe. Er verstärkte seine eigene Magie, um jede Schwäche im Schutzschirm auszugleichen. Still dachte er bei sich, dass Lililja vielleicht noch nicht bereit für eine derartige Aufgabe gewesen war.



Lililja entdeckte inmitten des Schleiersturms ein großes Geisterwesen.

Ein dritter Hilferuf drang in Lililjas Geist, und diesmal öffnete sie entnervt die Augen. Ihr Blick fiel auf den Schleiersturm, der sich bedrohlich vor ihr auftürmte. Plötzlich erfasste sie eine seltsame Erkenntnis: Aus den Wirbeln des Sturms starrten sie zwei rote Augen an, erfüllt von einer stummen, verzweifelten Bitte.

Mit wachsendem Entsetzen erkannte sie ein geflügeltes Geisterwesen, das im Inneren des Schleiersturms gefangen war. Seine mächtigen Schwingen bewegten sich im Rhythmus des Wirbelwinds, als wären sie untrennbar mit der Magie des Sturms verknüpft. Die grausame Harmonie zwischen dem Wesen und den tobenden Kräften des Schleiersturms fesselte sie für einen Augenblick in stummer Faszination. Dann durchbrach ein weiterer Ruf die Schleier ihrer Gedanken, und endlich verstand sie.

Ohne die Kontrolle über ihre Magie zu verlieren, rief sie laut über den See hinweg: „Im Schleiersturm ist jemand gefangen! Wir müssen ihn befreien!“

Erstaunte und entsetzte Blicke richteten sich auf sie, dann auf den Sturm. Viele Magier schienen in einem Moment des Schocks zu verharren, als sie das Geisterwesen ebenfalls erkannten. Lililjas Stimme erhob sich erneut, eindringlich und bestimmt: „Wir müssen etwas tun!“

Viele Magier blickten einander ratlos an. Ihre Gedanken waren von der drängenden Pflicht erfüllt, den Schutzschirm aufrechtzuerhalten. Keiner von ihnen sah eine Möglichkeit, dem Geisterwesen inmitten des Schleiersturms zu helfen.

Lililja hingegen kämpfte mit einem inneren Chaos. Die fremden Hilferufe hallten unaufhörlich in ihrem Geist wider, während sie verzweifelt versuchte, ihre Konzentration zu bewahren. Doch das war kein leichtes Unterfangen − ihre Gedanken schienen sich aufzuspalten, geteilt zwischen der Bewahrung des Schutzschirmes, der rätselhaften Botschaft und der Suche nach einer Lösung, das Geisterwesen zu befreien.

Plötzlich änderten sich die Gedanken in ihrem Kopf. Eine neue Botschaft formte sich klar und eindringlich: Der Schutzschirm ist nicht mehr notwendig. Der Schleiersturm hat eure Maßnahmen geprüft und für angemessen befunden.

Erschrocken hob sie den Blick und fixierte die Augen des Wesens, die tiefrot und flehentlich durch den tosenden Wirbel des Sturms zu ihr hinüberblickten. Ein Schauer durchlief sie, als sie begriff: Diese Gedanken stammten nicht aus ihrem eigenen Geist. Es war das Geisterwesen, das auf irgendeine Weise mit ihr kommunizierte.

Doch wie sollte sie den anderen Magiern erklären, was sie gerade erfahren hatte? Sie versuchte, ihre Verwirrung zu ordnen, und formulierte in ihren Gedanken eine direkte Botschaft an das Wesen: Kannst du nicht auch die anderen Magier erreichen? Sie würden mir nie glauben, wenn ich es ihnen erzähle.



Lililja erkannte, dass das Geisterwesen mit ihr über ihre Gedanken kommunizierte.

Die Antwort folgte unverzüglich: Ich habe es versucht, doch sie haben ihre Gedanken abgeschottet. Du allein hast auf meine Rufe reagiert.

Mit wachsender Verzweiflung wandte sich Lililja an den alten Lehrmeister, der an ihrer Seite stand. „Meister Lehakonos“, begann sie zitternd, „ihr müsst die mentale Blockade lockern. Das Geisterwesen versucht, mit uns zu sprechen!“

Der weise Lehrmeister runzelte die Stirn, betrachtete die junge Elfe, dann das Wesen im Schleiersturm. Schließlich nickte er langsam, als ob er ihre Worte abwog.

„Wir müssen ihm helfen!“, flehte Lililja.

Doch von der anderen Seite erklang Jadorucs tiefe Stimme, voller Abwehr: „Auf keinen Fall! Wir werden den Schutzschirm nicht senken, nur weil ein Geisterwesen versucht, unsere Gedanken zu manipulieren!“



Jadoruc lehnte es rundweg ab, dem Geisterwesen zu helfen.

Er hatte es kommen sehen: Diese junge Elfe würde bereit sein, das Schicksal der gesamten Hauptstadt aufs Spiel zu setzen, nur weil sie sich von den Gedanken eines fremdartigen Wesens leiten ließ.

„Aber schaut es euch an!“ Lililjas Stimme war nun von Verzweiflung durchzogen. „Es ist gefangen in diesem schrecklichen Schleiersturm. Es hat uns nichts getan − wir müssen ihm helfen!“

Jadoruc ließ sich jedoch nicht überzeugen. „Woher wissen wir, dass es nicht absichtlich gekommen ist? Vielleicht plant es, uns alle zu vernichten!“

Noch bevor Lililja antworten konnte, vernahm sie wieder die Gedanken des Wesens, die sich mit ihren eigenen zu verweben schienen: Ich bin nicht freiwillig hier. Der Schleiersturm hat mich gefangen und hergebracht.

Diese Worte − so fremd und doch eindringlich − brachten eine Erkenntnis in Lililjas Geist: Der Schleiersturm hatte das Wesen nicht als Bedrohung mitgebracht, sondern als Prüfung.

Mit einem aufblitzenden Funken von Gewissheit rief sie: „Es ist die Aufgabe! Das ist der Grund, warum der Schleiersturm sich hier festgesetzt hat!“

Viele Magier warfen ihr verwirrte Blicke zu, doch Meister Lehakonos nickte nachdenklich. „Ja, Lililja“, murmelte er, „du könntest recht haben.“

„Niemals!“ Jadorucs Stimme erhob sich erneut, entschlossener denn je. „Wir dürfen die Schutzmechanismen nicht senken! Das wäre Wahnsinn!“

Doch trotz der Warnung senkte Meister Lehakonos seine Arme, seine Entschlossenheit wankend, doch nicht gebrochen. Nach ihm ließ auch Lililja ihre Hände sinken, und allmählich folgten weitere Magier ihrem Beispiel.

Der Schutzschirm begann zu flimmern und verlor an Intensität. Hier und da bildeten sich Risse, doch entgegen aller Befürchtungen geschah nichts Dramatisches. Der Schleiersturm wirbelte weiterhin über dem Zauberbogenweiher, doch er ließ das Wasser unberührt. Dieses unerwartete Schauspiel veranlasste die übrigen Zauberer, ihre Arme ebenfalls sinken zu lassen, und der Schutzschirm löste sich schließlich vollständig auf.

In dem Moment, da der Schirm verschwand, begann der Schleiersturm, seine Kraft zu verlieren. Seine tobenden Wirbel wichen einem friedlichen Verklingen, und schließlich gab er das Geisterwesen frei. Es atmete erleichtert auf und ließ sich sanft auf die Stelle zutragen, an der Lililja stand.

In Gedanken hörte sie seine Worte, klar und dankbar: Ich grüße dich, Lililja, Hüterin des Lichtes. Ich bin Mojalian, ein Seelen-Drasta von Valivisia. Ich danke dir für meine Rettung.



Als das Geisterwesen frei war, schwebte
es auf Lililja zu und stellte sich als
Mojalian von Valivisia vor.

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