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Kaum war Mojalian der Zaubergemeinschaft offiziell vorgestellt worden, verbreitete sich die Kunde von seiner Anwesenheit in Windeseile durch Vanavistaria. Ebenso rasch sprach sich seine für die hiesigen Bewohner höchst ungewöhnliche Art der Kommunikation herum. Skeptische Blicke folgten ihm, wohin er sich auch immer begab. Die Bewohner des Landes standen dem Fremden, der angeblich sowohl ihre Gedanken lesen als auch tief in ihre Seelen blicken konnte, mit wachsendem Argwohn gegenüber.
Besonders Jadorucs Haltung fand schnell Anklang: Man dürfe diesem Wesen keineswegs unbedarft begegnen, warnte er. Der Hohenmagier, so munkelte man, habe sich in diesem Fall wohl von einer übertriebenen Vertrauensseligkeit leiten lassen. Erste Stimmen wurden laut, die forderten, es sei an der Zeit, einen neuen Hohenmagier zu wählen − einen, der mit schärferem Blick darauf achte, welche Wesen sich Zutritt zum Land verschafften.
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Ungeachtet dieser Unruhe hatte Meister Lehakonos jedoch die Gelehrten Vanavistarias zu einem umfassenden Vorhaben zusammengerufen. Die Schriftkundigen und Historiker des Landes wurden angewiesen, jedes noch so vage Gerücht über Resogurion niederzuschreiben und sämtliche Aufzeichnungen nach Spuren einer Verbindung zu anderen Welten zu durchforsten. Auch sollten sie nach verborgenen Hinweisen auf Artefakte, Orte oder Zauber suchen, die auf bislang unerklärte magische Phänomene hindeuteten. Mojalians Worte über eine einst enge Zusammenarbeit zwischen Valivisia und Vanavistaria legten nahe, dass es in früheren Zeiten einen Weg zwischen den Welten gegeben haben musste.
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Die Schriftgelehrten schrieben jedes Gerücht auf, das sie über Resogurion gehört hatten.
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Jadoruc stürzte sich mit besonderem Eifer auf diese Aufgabe, wobei sein Ziel unmissverständlich war: Er wollte das geheimnisvolle Geisterwesen so rasch wie möglich aus Vanavistaria vertreiben. Jeder Hinweis, wie klein oder unscheinbar auch immer, sollte zu diesem Zweck geprüft werden.
Auch die anderen Bewohner des Landes wurden aufgefordert, sich an der Suche zu beteiligen. Sie sollten nach bislang unbekannten oder vergessenen magischen Knotenpunkten Ausschau halten, verborgene Artefakte aufspüren und die Familienarchive nach uralten Zauberformeln durchstöbern, die womöglich den Schlüssel zu einem Wechsel der Welten enthielten.
Jene, die in diesen Bereichen nicht tätig werden konnten, erhielten eine andere Aufgabe: Sie sollten Mojalian ein Gefühl der Gastfreundschaft vermitteln und ihm den Aufenthalt in Vanavistaria so angenehm wie möglich gestalten. Doch angesichts der allgemeinen Skepsis, die ihm entgegenschlug, erwies sich dies als schwerer, als der Hohenmagier gehofft hatte.
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Die Vykati misstrauten Mojalian weiterhin, obwohl er alles daran setzte, die Wesen von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen.
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Mojalian seinerseits tat alles in seiner Macht Stehende, um das Vertrauen der Zauberwesen zu gewinnen. Er hielt sich streng an das Versprechen, das er Lililja und den anderen gegeben hatte: Er las keine Gedanken, die nicht ausdrücklich für ihn bestimmt waren, und wagte keinen Blick in die Seelen der Bewohner, um etwaige dunkle Geheimnisse aufzudecken. Stattdessen bemühte er sich, wo immer es ihm möglich war, Zuversicht und Verständnis zu säen.
Dennoch blieb ein tiefer Argwohn, insbesondere bei den Vykati, die sein freundliches Wesen als trügerisch und hinterlistig deuteten.
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Trotz allem fand Mojalian in Pranicara eine Seelenverwandte. Die beiden trafen sich häufig und tauschten sich über ihre jeweilige Herangehensweise an die Heilung von Seelen aus. Pranicara bewunderte Mojalians Fähigkeit, tief in jede Seele einzutauchen und sie bis in ihre verborgensten Winkel zu durchleuchten. Mojalian hingegen war fasziniert von Pranicaras Talent, durch Gespräche und feine magische Impulse den Kern eines Problems zu erkennen.
Indessen kehrten Lililja und Rafyndor, nachdem die Sicherheitsvorkehrungen für die Hauptstadt aufgehoben worden waren, zu ihren abendlichen Spaziergängen zurück. Eines Abends, als sie nebeneinander durch die stillen Straßen wanderten, fragte Rafyndor unvermittelt: „Was hältst du eigentlich von Mojalian, Lililja? Glaubst du, man kann ihm trauen?“
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Lililja blieb kurz nachdenklich, bevor sie nickte. „Ja, ich denke schon“, antwortete sie schließlich und fügte mit einem leichten Schmunzeln hinzu: „Pranicara jedenfalls ist ganz begeistert von ihm. Sie schwärmt regelrecht von seinen Fähigkeiten.“
Rafyndor verzog skeptisch das Gesicht. „Nun ja“, meinte er achselzuckend, „sie teilen sich eben ein Fachgebiet. Das verbindet.“
Lililja warf ihm einen forschenden Blick zu. „Du vertraust ihm nicht wirklich, oder?“, fragte sie.
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Rafyndor wollte während des Abendspaziergangs von Lililja wissen, ob sie Mojalian traute.
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Rafyndor zögerte, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, gab er zu. „Er macht mir ein wenig Angst. Denkst du nicht auch, dass er trotz seiner Beteuerungen vielleicht doch einen Blick in deine Seele werfen könnte, um deine verborgensten Geheimnisse zu enthüllen?“
Lililja lachte herzlich. „Ach, Rafyndor, wenn er das täte, würde er nicht viel finden! Ich bin wie ein offenes Buch. Wer mich kennt, der kennt auch meine Geheimnisse.“
Das musste Rafyndor widerstrebend eingestehen. Lililja war in der Tat unverstellt und geradeheraus. Sie sagte ihre Meinung stets offen, jedoch auf eine Art, die ihr Gegenüber selten vor den Kopf stieß. Oft bewunderte er sie für diesen Mut, der ihm selbst nur allzu oft fehlte.
Doch Lililja ließ nicht locker. Mit schelmischem Glitzern in den Augen fragte sie: „Und bei dir? Würde er dort etwas entdecken?“
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Zu Lililjas Überraschung wurde Rafyndor bei der Frage nach Geheimnissen rot.
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Zu ihrer Überraschung lief Rafyndor leicht rot an. „Möglicherweise“, murmelte er und wandte hastig den Blick ab. „Aber darüber will ich nicht reden!“
Lililja blinzelte erstaunt, sagte jedoch nichts. Stattdessen dachte sie still: Vielleicht hat Rafyndor in der Höhle vor dem Schleiersturm doch nicht alle Gedanken ordnen können. Aber wenn er bereit ist, mit mir zu sprechen, wird er es tun.
Mit einem leichten Schulterzucken legte sie das Thema beiseite, während sie gemeinsam weitergingen.
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Nachdem Lililja und Rafyndor ihren Abendspaziergang beendet und sich voneinander verabschiedet hatten, verharrte Rafyndor wie gewohnt in der Nähe ihres Hauses. Erst als sie hinter der Haustür verschwunden war, machte er sich auf den Weg zurück zu seiner Hütte im Wald. Tief in Gedanken versunken folgte er dem vertrauten Pfad, während ihm eine Frage nicht aus dem Sinn ging: Sollte er Mojalian vertrauen?
Lililja und Pranicara schienen keinerlei Zweifel an dem geheimnisvollen Wesen zu hegen, und auch Meister Lehakonos hatte seine Sympathie für den Fremden offen zur Schau gestellt. Doch seit jener ersten Begegnung, als Mojalian ihm unverblümt angedeutet hatte, er trüge ein Geheimnis mit sich, das er nicht preiszugeben gedachte, war Rafyndor in ständiger Furcht. Was, wenn das Geisterwesen sich nicht an sein Versprechen hielt und heimlich in seine Seele blickte? Denn wenn es das täte, würde es ohne Zweifel auf das stoßen, was Rafyndor um jeden Preis zu verbergen suchte: seine tiefe, unaussprechliche Liebe zu Lililja.
Und doch quälte ihn eine weitere Frage: Sollte Mojalian tatsächlich sein Wort gehalten haben − was mochte er dann von ihm denken? Der Gedanke daran ließ ihn nicht los. Hatte Mojalian nicht angedeutet, Rafyndor hülle sich in einen Schleier, um etwas vor der Welt zu verbergen? Könnte es sein, dass Mojalian dunkle Magie hinter diesem Geheimnis vermutete? Der Gedanke erfüllte ihn mit Unbehagen.
Aber weshalb kümmerte ihn überhaupt, was Mojalian von ihm dachte? Diese Frage stellte er sich immer wieder, ohne eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Eigentlich sollte es ihm gleichgültig sein. Und doch war es das nicht. Wenn Rafyndor ehrlich zu sich selbst war, fand er Mojalian faszinierend, ja beinahe bewundernswert. Doch diese Neugier kollidierte unaufhörlich mit seiner Angst: der Angst, das Wesen könnte sein heiligstes Geheimnis entdecken.
Als er schließlich seine Hütte im Schutz der Bäume erreichte und sich auf sein schlichtes Bett legte, fasste Rafyndor einen Entschluss. Er würde nicht länger zaudern. Er würde Mojalian selbst zur Rede stellen.
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Mit halblauter Stimme sagte er in die Dunkelheit: „Mojalian, hast du Zeit?“
Die Antwort hallte prompt und klar in seinen Gedanken wider: Ich habe immer Zeit, Rafyndor.
Einen Moment lang rang Rafyndor mit sich. Sollte er diesem Wesen tatsächlich sein Vertrauen schenken? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, als Mojalians Stimme erneut erklang: Das musst du selbst entscheiden. Ich würde mich freuen, wenn du es könntest. Doch ich würde auch verstehen, wenn du es nicht kannst.
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In seiner Holzhütte nahm Rafyndor Kontakt zu Mojalian auf.
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Diese Worte hinterließen in Rafyndors Geist ein leises Echo, das sich beharrlich in seine Überlegungen drängte. Nach kurzem Zögern richtete er seine Gedanken vorsichtig in Mojalians Richtung: Wenn ich dir ein Geheimnis verrate, wäre es bei dir sicher aufgehoben?
Absolut, erwiderte Mojalian mit fester Stimme.
Du hast am ersten Abend bemerkt, dass ich ein Geheimnis habe, und mir versichert, du würdest es nicht ergründen. Hast du dich daran gehalten? Rafyndor suchte in Mojalians Antwort nach einem Anflug von Zweifel.
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Mojalian erklärte, dass auf Valivisia sofort auffallen würde, wenn jemand sein Versprechen bräche.
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Ich halte meine Versprechen stets ein, entgegnete Mojalian mit der ruhigen Sachlichkeit, die ihn auszeichnete. In meiner Welt wäre ein gebrochenes Versprechen unverzeihlich, da es sofort ans Licht käme. Daher geben wir nur jene Versprechen, die wir auch mit Sicherheit halten können.
Darf ich dir mein Geheimnis anvertrauen? Rafyndors Gedanken war von Unsicherheit durchzogen, während er den letzten Rest seines Mutes zusammenraffte.
Wenn du mir so weit vertraust, dann höre ich dir gern zu, versicherte Mojalian.
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Es ist nichts Besonderes…, druckste Rafyndor herum.
Wenn es dir wichtig genug ist, es zu hüten, dann ist es auch bedeutend, antwortete Mojalian in seiner ruhigen, unaufgeregten Weise.
Rafyndor zögerte erneut, bevor er tief Luft holte. Doch Mojalians nächste Frage raubte ihm den Atem: Hat dein Geheimnis mit Lililja zu tun?
Erschrocken hielt Rafyndor inne. Hatte Mojalian doch in seine Seele geblickt?
Doch das Geisterwesen sprach beruhigend weiter: Nein, Rafyndor. Ich habe nicht in deine Seele geschaut. Es ist lediglich eine Beobachtung: Immer, wenn Lililja in deiner Nähe ist, ändern sich deine Körperreaktionen. Dein Atem wird schneller, deine Herzfrequenz steigt, und dein Blick erhält eine besondere Intensität. Diese Muster verraten mehr, als du vielleicht denkst.
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Rafyndor stieß erleichtert einen tiefen Seufzer aus. Ja, du hast recht, gestand er schließlich mit zögernder Stimme. Es hat mit Lililja zu tun. Ich liebe sie. Mehr als alles andere. Doch sie weiß nichts davon. Für sie bin ich nichts weiter als ein kleiner Bruder. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich das eines Tages ändern wird.
Mojalian schwieg einen Moment, bevor er fragte: Möchtest du mir erzählen, warum du sie so sehr liebst?
Rafyndor überlegte einen Augenblick, dann nickte er fast unmerklich. Ja, warum nicht. Aber du musst mir versprechen, dass du ihr nichts davon verrätst.
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Rafyndor gestand Mojalian, dass er Lililja liebte.
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Deine Geheimnisse sind bei mir sicher, versicherte Mojalian mit Nachdruck. Ich werde niemals jemandem etwas verraten, das du mir anvertraut hast.
So begann Rafyndor in seinen Gedanken zu erzählen. Mit leiser Stimme, zunächst zögerlich, doch bald schon freier, schilderte er jene dunklen Tage seiner Kindheit, als er gemeinsam mit Pranicara, noch ein kleiner Waldgeist, in der Jada-Eiche gefangen war. Er sprach von der Enge und der Angst, die sie dort einsperrte, und von dem Moment, als Pranicara ihm mit ernster Miene gestanden hatte, dass sie wohl dort verhungern würden − weil niemand sie jemals finden könnte. Die Verzweiflung jener Zeit war in seiner Erinnerung noch lebendig. Doch ebenso war es der Augenblick, als Lililja auf sie traf.
Er beschrieb, wie Lililja nach der Befreiungsaktion durch Meister Lehakonos plötzlich erschienen war − wie ein leuchtender Engel mit ihrer sanften Stimme und ihrem goldenen Haar. In diesem Moment war sie für ihn nicht nur eine kleine Elfe gewesen, sondern etwas Größeres: ein Licht, das in der Dunkelheit seiner Existenz erstrahlte. Von da an war sie der Fels, zu dem er mit all seinen Sorgen und Ängsten flüchten konnte. Anders als Pranicara, die ihn oft mit einem spöttischen Lachen bedacht hatte, hörte Lililja immer zu, ohne zu urteilen. Sie hatte nie über ihn gelacht, sondern ihm stets die tröstende Gewissheit gegeben, verstanden zu werden.
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Rafyndor erzählte, warum er Lililja so innig liebte.
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Rafyndor sprach davon, wie Lililja sich mit unerschütterlicher Güte um die Schwachen und Kleinen kümmerte − immer und bedingungslos. Ihre hohe Stellung hatte sie nie über andere erhoben, und ihre Bescheidenheit war ebenso echt wie ihr Lächeln. Lililja war, wie sie sich zeigte − ohne Fassade, ohne Verstellung. Und genau das machte sie für ihn so unendlich liebenswert.
Die Worte flossen aus ihm heraus, als hätten sie lange nur auf diesen Moment gewartet. Die Stunden vergingen, während Rafyndor erzählte.
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Mojalian hörte geduldig zu, seine Gegenwart war still und verständnisvoll. Ab und zu stellte er eine Frage, um etwas zu klären, oder gab eine nachdenkliche Antwort, wenn Rafyndor selbst ins Grübeln geriet. Es war, als ob eine Blockade in Rafyndors Innerem sich löste, wie ein Fluss, der nach langer Zeit endlich seinen Weg durch ein angestautes Becken fand. Es tat gut, all die Gefühle und Gedanken auszusprechen − vor allem, weil er wusste, dass niemand außer Mojalian sie hören konnte. Die Sicherheit, dass sein Geheimnis gewahrt bleiben würde, war wie ein unsichtbares Band des Vertrauens.
Als die ersten Strahlen der Morgensonne durch die kleinen Fenster seiner Hütte fielen, wurde Rafyndor bewusst, dass er die ganze Nacht hindurch mit Mojalian über Lililja gesprochen hatte. Erschrocken entschuldigte er sich: Ich habe dich die ganze Nacht wach gehalten und dir mit meinen Gedanken den Schlaf geraubt.
Mojalians Antwort war ruhig und mitfühlend: Ich schlafe nie, Rafyndor. Wenn überhaupt, hast du dich selbst um den Schlaf gebracht. Doch ich hoffe, der Austausch hat dir dennoch gutgetan.
Oh ja, das hat er, erwiderte Rafyndor strahlend, auch wenn er wusste, dass Mojalian sein Lächeln nicht sehen konnte. Es war unglaublich befreiend, endlich mit jemandem über Lililja sprechen zu können.
Es freut mich, dass ich dir helfen konnte, antwortete Mojalian in Gedanken. Wenn du jemals das Bedürfnis hast, mir erneut von deinen Geheimnissen zu erzählen, werde ich da sein. In diesen Worten schwang eine Sanftheit mit, und Rafyndor konnte Mojalian fast vor seinem inneren Auge lächeln sehen.
Vielleicht werde ich dein Angebot annehmen, sagte Rafyndor leise, während ein neues, befreiendes Gefühl ihn durchströmte.
Glücklich und mit einer Leichtigkeit, die er lange nicht mehr gespürt hatte, erhob er sich, nahm seine Werkzeuge und machte sich auf den Weg in den Wald, bereit, den neuen Tag zu begrüßen.
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Glücklich begann Rafyndor an diesem Morgen mit seinen Arbeiten im Wald.
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