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Beobachtungen


Rafyndor dachte zufrieden an die vergangene Nacht zurück, in der er zum ersten Mal offen über seine tiefe Liebe zu Lililja sprechen konnte.
Rafyndor fühlte sich ungewöhnlich beschwingt, beinahe heiter, als er an jenem Abend Lililja wiedertraf, obwohl ihm die Nacht ohne erholsamen Schlafes noch in den Gliedern lag.

Doch das Gespräch, das er in Gedanken mit Mojalian geführt hatte, war wie ein reinigender Sturm durch seinen Geist gefahren und hatte eine Last von seinen Schultern genommen − eine Bürde, deren Gewicht er nicht einmal bemerkt hatte, bis sie von ihm genommen war.

Es war eine seltene und befreiende Erfahrung gewesen, in der Nacht offen und ohne Zurückhaltung von seinen Gefühlen für Lililja sprechen zu können.

Zum ersten Mal hatte er jemanden an seinen innersten Empfindungen teilhaben lassen, ohne die stete Angst, verlacht zu werden, oder schlimmer noch, dass Lililja selbst von seinen Geständnissen erfuhr. Diese Offenheit hatte etwas in ihm gelöst und ihm erlaubt, seine eigenen Gefühle klarer zu begreifen. Mit neuer Schärfe erkannte er, wie tief seine Zuneigung zu Lililja war und wie sehr seine „Auszeit“ sie verletzt haben musste.

Er hatte Mojalian auch davon erzählt, wie sehr Lililja unter seiner plötzlichen Abwesenheit gelitten hatte − und wie stürmisch ihre Freude gewesen war, als er endlich zurückgekehrt war. Das Gefühl der Erleichterung, das aus diesem Gespräch hervorgegangen war, begleitete ihn auch an diesem Abend, selbst als ihn Rangalo wieder einmal in Rage brachte. Diesmal hatte der kleine Störenfried es geschafft, sämtliche seiner Werkzeuge heimlich zu entwenden und sie hoch oben in die Wipfel der Bäume zu hängen. Zum Glück hatte Skukius, der treue Korvum-Rabe, die Situation gerettet und die Werkzeuge wieder heruntergeholt, sodass Rafyndor sich das Klettern ersparen konnte. Rangalo jedoch hatte dem Raben daraufhin beleidigt das Wort „Spielverderber“ zugezischt und war schmollend davongeflattert.

Am Treffpunkt erwartete ihn Lililja wie gewohnt im warmen Licht der untergehenden Sonne. Ihr Lächeln, so sanft wie die Abendbrise, erhellte sein Innerstes. Doch als er näher trat, musterte sie ihn verwundert.

„Was ist los, Rafyndor?“, fragte sie schließlich. „Gestern wirkte deine Stimmung noch so bedrückt, und heute strahlst du beinahe. Ist etwas passiert?“

Rafyndor hielt inne, überlegte kurz, wie er es erklären sollte, und sagte dann mit einem kleinen Lächeln: „Mojalian ist passiert.“



Lililja wartete am ausgemachten Treffpunkt von der untergehenden Sonne umgeben.

Lililja zog die Stirn kraus. „Das verstehe ich nicht“, gestand sie.

„Ich habe mich intensiv mit Mojalian unterhalten“, begann er zu erklären, „und ihm alles erzählt, sogar das, was ich dir nicht erzählen wollte. Es war... befreiend. Er ist ein bemerkenswerter Zuhörer, das musst du wissen.“

Ein Schmunzeln spielte um Lililjas Lippen. „Also hast du ihm schließlich doch vertraut?“, fragte sie sanft.

Rafyndor nickte. „Du hattest mir gesagt, dass du ihm vertraust, und ich vertraue deinem Urteil ohne Einschränkung. Deshalb habe ich mich entschieden, ihm ebenfalls zu vertrauen. Es hat mir gutgetan, und es hat mir gezeigt, dass du, Pranicara und Meister Lehakonos recht hattet. Mojalian ist tatsächlich niemand, der uns schaden will, geschweige denn heimlich in unsere Gedanken oder Seelen blickt. Allerdings“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu, „legt man ihm seine Seele recht freiwillig offen.“

„Es freut mich, dass dir das Gespräch mit ihm so geholfen hat“, sagte Lililja herzlich. „Ich bin immer glücklich, wenn es dir gut geht.“ Sie nahm seine Hand in ihre, und gemeinsam schlenderten sie die verschlungenen Wege entlang, die durch die prachtvolle Landschaft der Hauptstadt Vanavistarias führten.

Rafyndor erzählte ihr von seinem Tag, unter anderem auch von Rangalos neuestem Streich. Lililja lachte hell und unbeschwert, als er schilderte, wie er sich schon selbst in die Baumkronen klettern sah, um seine Werkzeuge zu bergen.

Ach, dachte Rafyndor in diesem Moment, wenn du wüsstest, Lililja, wie sehr ich dieses Lachen liebe! Ein sanfter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und er betrachtete sie mit einer Zärtlichkeit, die er sich noch nie erlaubt hatte, offen zu zeigen. Doch als Lililja ihn anblickte, wandte er hastig den Blick ab, unsicher, ob sie etwas bemerkt hatte. Sie jedoch ließ sich nichts anmerken.

Ich muss aufhören, mich von meiner Unsicherheit lähmen zu lassen, nahm er sich vor, während sie weitergingen. Heute Abend, so beschloss er, würde er Mojalian erneut um ein Gespräch bitten. Dieses erste Zwiegespräch war nicht nur eine Befreiung gewesen; es hatte ihm auch geholfen, seine Zweifel und Unsicherheiten besser zu bewältigen.



Zurück in seiner Hütte nahm Rafyndor erneut Kontakt mit Mojalian auf.

Nachdem sich Lililja und Rafyndor an jenem Abend voneinander verabschiedet hatten und der Waldgeist in seine Hütte zurückgekehrt war, ließ er sich auf sein Bett sinken. Der Mondschein fiel durch die Zweige des Waldes und zeichnete silberne Muster an die Wände, während er leise dachte: Mojalian?

Eine sanfte Stimme antwortete in seinen Gedanken: Ja, Rafyndor?

Darf ich dir von meinem heutigen Tag erzählen?, fragte Rafyndor zögernd.

Selbstverständlich, entgegnete Mojalian mit ruhiger Gewissheit.

Weißt du, begann Rafyndor, das Gespräch mit dir hat mich unglaublich befreit. Es hat etwas in mir gelöst, mir ein wenig von der Unsicherheit genommen, die mich immer wieder hemmt.

Er erzählte von der Begebenheit mit Lililja: wie er sie angesehen hatte, sein Blick von all der Liebe durchdrungen, die er für sie empfand − und wie er hastig weggeschaut hatte, als sie ihn bemerkte. Meinst du, sie hat etwas bemerkt?, fragte er schließlich mit leiser Unsicherheit.

Mojalian entgegnete nachdenklich: Was hast du selbst gespürt? Welchen Eindruck hattest du?

Rafyndor überlegte kurz, bevor er antwortete: Ich glaube, sie hat es bemerkt... aber sie hat so getan, als hätte sie nichts gesehen.

Hat dir das Unbehagen bereitet?, fragte Mojalian weiter.

Ja, ein wenig, gab Rafyndor zu und ließ den Gedanken in sich wirken.

Warum?, wollte Mojalian wissen.

Diese Frage ließ Rafyndor innehalten. Nach einer Weile des Grübelns sagte er zögernd: Ich glaube, weil ich nicht möchte, dass sie weiß, was ich für sie empfinde.



Rafyndor vermutete, dass Liliija etwas von seinem verliebten Blick bemerkt hätte, was ihm unangenehm war.

Mojalian hakte nach: Und warum willst du es ihr nicht offenbaren?

Rafyndor runzelte die Stirn, suchte nach einer Antwort. Würde sie ihn etwa auslachen? Nein, das war unmöglich − nicht bei Lililja. Dann dämmerte ihm der wahre Grund: Ich habe Angst, dass es unsere Beziehung verändert. Vielleicht zieht sie sich zurück, und das könnte ich nicht ertragen, gestand er leise.



Mojalian erkundigte sich bei Raffyndor, ob er Lililja näher kennen lerne dürfe.

Eine Weile herrschte Schweigen, bevor Mojalians Stimme wieder erklang: Ich kenne Lililja nicht gut genug, um dir dazu etwas sagen zu können. Doch wenn es dir nichts ausmacht, würde ich sie gern näher kennenlernen, um sie besser einschätzen zu können. Natürlich werde ich ihr nichts von deinen Gefühlen verraten − darauf hast du mein Wort. Aber um dir bei dieser Sorge zu helfen, müsste ich mehr über sie erfahren. Wenn ich direkt in ihre Seele blicken dürfte, könnte ich dir eine präzise Antwort geben. Doch wie bei dir halte ich auch ihr gegenüber mein Versprechen und werde es nicht tun.

Rafyndor war erstaunt über Mojalians Bitte um Erlaubnis. Warum fragst du mich, ob es mir etwas ausmachen würde?, wollte er wissen.

Mojalian erklärte geduldig: Weil du sie liebst. Ich möchte nicht, dass meine Einmischung deine Gefühle beeinflusst oder Unruhe zwischen euch stiftet. Ich habe beobachtet, dass es hier in Vanavistaria Paare gibt, die beginnen zu streiten, wenn ein Dritter sich in ihre Beziehung einmischt. Das möchte ich unter allen Umständen vermeiden.

Rafyndor verstand die Vorsicht, die in Mojalians Worten lag. Nach kurzem Nachdenken erwiderte er: Nein, ich habe keine Einwände. Lerne sie ruhig besser kennen. Ich bin sicher, sie wird dich faszinieren. Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an Lililja dachte.

Das vermute ich auch, wenn ich deine Erzählungen über sie bedenke, antwortete Mojalian mit leiser Zuversicht.

Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich, und Rafyndor ließ sich in die Ruhe der Nacht fallen. Zum ersten Mal seit Tagen umfing ihn ein friedvoller Schlaf, der ihn von all der Erschöpfung befreite, die ihn zuvor gequält hatte.

Am folgenden Morgen fand sich Mojalian an der Stelle ein, an der Lililja ihre täglichen Runden zu beginnen pflegte. Als sie ihn dort erblickte, war sie sichtlich überrascht.

Mojalian, ohne jegliche Zurückhaltung, erklärte, dass er gehofft habe, sie hier anzutreffen, da er den Wunsch hegte, sie etwas näher kennenzulernen. Lililja musterte ihn erstaunt.

„Warum?“, fragte sie, die Überraschung noch in ihrer Stimme.


Mojalian überraschte Lililja am Morgen auf ihrer Morgenrunde.

Weil du die Hüterin der Natur und der Magie bist, erwiderte Mojalian, und weil euer Umgang mit der Natur in vielerlei Hinsicht so grundlegend anders ist als der unsrige.

„Was unterscheidet euren Umgang mit der Natur von dem unsrigen?“, fragte sie nun, ihre Neugierde geweckt.

Mojalian überlegte einen Moment, bevor er antwortete. Ihr pflegt und hegt eure Pflanzen und Tiere mit einer Hingabe, die wir nicht kennen. Ihr sorgt dafür, dass sie an bestimmten Orten gedeihen, dass sie nur da wachsen, wo ihr es ihnen gestattet. Bei uns jedoch wächst alles, wie es der Zufall bestimmt. Die Pflanzen streben dorthin, wo es ihnen beliebt, und wir hindern sie nicht daran. Aber wir pflegen sie auch nicht. Werden sie krank, müssen sie selbst damit fertig werden, oder sie verenden.

„Das klingt hart“, entgegnete Lililja, ein wenig erschüttert von dieser Perspektive.

Es mag mit unserer unterschiedlichen physischen Verfassung zusammenhängen, erklärte Mojalian ruhig. Wir Geisterwesen sind nicht an das Materielle gebunden. Die Pflanzen, die bei uns existieren, haben jedoch denselben Anspruch auf das Leben wie wir selbst. Wir beschränken sie nicht, und sie beschränken uns nicht. Unsere Existenz ist von einer gewissen Distanz geprägt − wir teilen uns den Raum, aber leben eher nebeneinander als miteinander. Wir nehmen einander kaum wahr. Ihr jedoch behandelt die Pflanzen mit einer zarten Aufmerksamkeit, nur gewährt ihr ihnen nicht den Raum, den sie für sich beanspruchen könnten.



Mojalian zeigte auf einen kleinen Grashalm, der sich zwischen den Kieselsteinen hindurch einen Weg an die Sonne gesucht hatte.

Er deutete auf einen kleinen Grashalm, der sich unermüdlich zwischen zwei Kieselsteinen hindurch nach dem Licht der Sonne streckte. Dieser Grashalm würde hier gerne gedeihen, sagte er. Doch seine Existenz ist fragil. Er wächst nur, bis jemand von euch Materiellen diesen Weg entlang geht und ihn niedertritt. Vielleicht wird er sich vom ersten Schritt erholen, vielleicht auch vom zweiten, doch irgendwann wird er aufgeben und sein Leben beenden. Trotz eurer sorgfältigen Pflege der Pflanzen werdet ihr den Grashalm nicht wahrnehmen.

Lililja ließ sich von seinen Worten in eine andere Perspektive führen. So hatte sie die Dinge noch nie betrachtet. Ein leises Bedauern regte sich in ihr, fast war sie versucht, einen Zaun um den kleinen Grashalm zu errichten, um ihm zu gestatten, in Frieden zu wachsen.

Doch dann kehrte sie rasch in die Realität zurück und erwiderte: „Du hast sicher recht, Mojalian, dass wir ein einzelnes Pflänzchen übersehen. Doch wir sind keine Geisterwesen wie ihr. Wenn wir der Natur denselben Freiraum zugestehen würden, den ihr gewährt, dann würde sie uns keinen Raum zum Leben lassen. Wir müssen uns arrangieren, uns den Platz, den wir benötigen, bewahren. So wie wir nicht erlauben, dass sich die Natur in unsere Lebensräume ausdehnt, so achten wir aber auch darauf, dass niemand von uns heimlich den Lebensraum der Natur beansprucht.“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie fortfuhr: „Rafyndor würde zum Beispiel niemals zulassen, dass sich ein Zauberwesen im Wald niederlässt und so die Lebensräume der Tiere und Pflanzen bedroht. Gleichzeitig achtet er darauf, dass die Lebensweise aller dort ansässigen Wesen in ihrem Gleichgewicht bleibt. In der Natur gibt es viele kleine Wesen, die ebenfalls ihren Platz verdienen, und es wird jedem der Raum gegeben, den er braucht, um zu gedeihen.“

Mojalian lauschte mit wachsendem Interesse. Die kleinen Wesen waren ihm noch nicht begegnet, und er bemerkte, dass es ihm nicht nur schwerfiel, die Gedanken der Tiere wahrzunehmen − auch die kleineren Kreaturen entzogen sich seiner Wahrnehmung.



Lililja berichtete von Rafyndor, der darauf achtete, dass auch die kleinen Lebewesen genug Platz zum leben hatten.

„Übrigens“, bemerkte Lililja, „ich danke dir, dass du Rafyndor dein offenes Ohr schenkst. Es hat ihm sichtbar gutgetan, mit dir über sich selbst und seine inneren Konflikte zu sprechen.“

Du hegst starke Zuneigung zu ihm, nicht wahr?, fragte Mojalian nun mit einer Offenheit, die Lililja überraschte.

Sie nickte, und ein warmes Lächeln zog über ihr Gesicht. „Von Anfang an habe ich ihn in mein Herz geschlossen“, gestand sie. „Als ich ihn traf, war er gerade aus einer Jada-Eiche befreit worden, in der er von einem finsteren Fluch gefangen war. Er war damals völlig benommen, stand unter einem tiefen Schock, und ich fürchtete schon, dass er seinen Verstand für immer verloren hatte. Er wirkte so hilflos!“



Lililja erzählte, dass sie seit dem ersten Aufeinandertreffen stets auf Rafyndor aufpasste.

In ihren Augen flimmerte der Glanz von ungesagtem Schmerz, und Mojalian erkannte, wie tief die Angst um Rafyndor damals in ihr verwurzelt gewesen war.

Lililja blinzelte hastig, um die Tränen zu vertreiben. „Ich habe ihm geraten, sich auf die Natur zu konzentrieren, auf die unendliche Weite des Waldes, und alles in sich aufzunehmen, was der Wald ihm zu bieten hatte. Es war, als würde der Wald ihn aus seiner Schockstarre befreien, und plötzlich lief er, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, in den Wald hinein.“

Ein sanftes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Seitdem achte ich auf ihn. Er ist immer noch der unsichere, kleine Junge, auch wenn er längst erwachsen und stark geworden ist und mit einer festen Selbstsicherheit seiner Arbeit im Wald nachgeht. Aber wenn er sich in unbekannten Situationen wiederfindet, braucht er noch immer eine Hand, die ihn an den Wald heranführt und ihm zeigt, dass er frei ist, dass er leben kann, wie er es selbst möchte.“

Mojalian erkannte nun, dass Rafyndors Hoffnung, Lililjas Sicht auf ihn könnte sich eines Tages ändern, vergeblich war. Unmissverständlich war es, dass Lililja Rafyndor liebte − aber auf eine ganz andere Weise, als er selbst es tat. Sie sah in ihm nach wie vor den kleinen Waldgeist, der aus der Jada-Eiche befreit worden war, und diese Sicht würde sich niemals wandeln.

Doch Mojalian würde nicht derjenige sein, der Rafyndor diese bittere Wahrheit übermitteln würde. Denn die Hoffnung, dass sich Lililjas Gefühle für ihn irgendwann ändern könnten, hielt Rafyndor aufrecht, ließ ihn das Leben in all seinen Facetten genießen. Und Mojalian wusste, dass es besser war, in dieser Hoffnung zu leben, als in der düsteren Gewissheit, dass sie niemals erwidert werden würde. Lieber ein Leben in vergeblicher Hoffnung als eines in hoffnungsloser Gewissheit.

Lililja lud Mojalian ein, sie bei ihrer Arbeit zu begleiten. Ihre Faszination für seine Perspektive auf die Natur war unübersehbar, und sie hoffte, noch mehr von ihm zu lernen.

Mojalian wiederum fand die Sichtweise Lililjas ebenso fesselnd und nahm das Angebot mit einer offenen Geste an.

Irgendwann im Verlauf des Vormittags, als die beiden in tiefem Gespräch vertieft waren, wandte sich Mojalian einem Thema zu, das ihn seit seiner Ankunft in Vanavistaria beschäftigte, und das ihm besonders im Studierzimmer des Hohenmagiers unangenehm aufgefallen war: Lililja, weshalb sind euch Materiellen so viele Dinge wichtig, die aus meiner Sicht keinen wirklichen Wert besitzen?

Lililja schaute ihn fragend an. „Was meinst du damit, Mojalian?“

Er dachte an das Studierzimmer des Hohenmagiers und sprach dann mit Bedacht: Ihr sammelt zahllose Artefakte und messt ihnen eine tiefere Bedeutung bei, obwohl viele dieser Dinge keine bemerkenswerte Geschichte oder Vergangenheit in sich tragen. Sie wurden von Wesen erschaffen, die sie womöglich längst vergessen oder beiseitegelegt haben. Einige dieser Artefakte mögen tatsächlich einen gewissen Wert besitzen, aber in meinen Augen ist vieles davon nur alter, wertloser Ballast.



Mojalian wollte wissen, warum die Wesen Vanavistarias so viele Artefakte sammelten.

Er sah Lililja mit Erwartung an. Sie hatte aufmerksam zugehört und versuchte nun, Mojalians Perspektive nachzuvollziehen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, antwortete sie ruhig: „Mojalian, für uns Materielle ist es wichtig, in die Vergangenheit zu blicken, um die Gegenwart zu verstehen und bessere Entscheidungen für die Zukunft treffen zu können. Diese Artefakte sehen wir als Schlüssel zu den Zeiten von einst, als Botschafter vergangener Epochen, die uns Einblicke in das Wissen jener Zeiten gewähren. Für uns sind sie Symbole von Wissen, das über Generationen hinweg überliefert wurde. Jeder Gegenstand, der vor langer Zeit geschaffen wurde, trägt in sich ein Stück der Geschichte und eine unsichtbare Verbindung zu den Wesen, die ihn einst besaßen.“

Mojalian nahm ihre Erklärung aufmerksam auf und erwiderte nachdenklich: In meiner Welt ist dieses Wissen auch von Bedeutung, doch es geht weniger um die physischen Gegenstände, sondern um die Daten, die in den Beziehungen zwischen den Wesen verborgen sind, um die Geschichte der Zeiten und die Fähigkeit, das Dunkel der Vergangenheit in das Licht der Zukunft zu wenden.

Lililja war tief fasziniert von den unterschiedlichen Perspektiven, die sie und Mojalian auf die Natur und das Leben hatten. Sie war froh, dass er sie heute Morgen aufgesucht hatte, und dass sich daraus so bereichernde Gespräche entwickelt hatten.



Am Sonnenstrahlenteich führte Lililja einen Sonnenritus durch.

Als sie den majestätischen Fuß einer gewaltigen Jada-Eiche erreichten, deren Wurzeln den glitzernden Sonnenstrahlenteich sanft umschlangen, wandte sich Lililja an Mojalian. Ihre Stimme war leise, fast ehrfürchtig: „Hier muss ich einen Ritus vollziehen, für den ich all meine Konzentration brauche. Würdest du mir den Gefallen tun und dort auf dem Pfad auf mich warten? Ich würde unsere Gespräche später gern fortsetzen.“

Mojalian, dem nicht nur die Worte Lililjas, sondern auch ihre ganze Erscheinung immer faszinierender erschienen, stimmte bereitwillig zu.

Lililja kniete sich auf die weiche, lebendige Erde, nahe am Stamm der ehrwürdigen Eiche. Mit einer langsamen, bedächtigen Bewegung legte sie ihre Hände flach auf den Boden. Hier, an diesem besonderen Ort, durchdrang ein intensives magisches Feld die Welt − ein Feld, das als „Seele der Sonne“ bekannt war. Es war ein Knotenpunkt der Elemente, die hier in vollkommener Harmonie zusammenfanden: das Wasser, verkörpert durch den glitzernden Teich; die Erde, in deren kräftigen Schoß die Eiche wurzelte; die Luft, die durch das rauschende Blätterdach wehte; und das Feuer, das von der strahlenden Sonne gespendet wurde, deren Licht von der glatten Oberfläche des Teiches zurückgeworfen wurde.

Lililja ließ sich von der magischen Energie des Ortes durchströmen. Unter ihren Händen spürte sie die gleichmäßigen, sanften Strömungen der Kraft, die den Boden durchzog. Nach einer Weile richtete sie sich auf, trat in das Zentrum des Feldes und hob ihr Gesicht, die Augen geschlossen, gen Himmel. Ihre Hände öffneten sich wie Blütenkelche, die die Strahlen der Sonne empfingen. In dieser Haltung verharrte sie, still und unbeweglich, während sie die goldene Wärme der Sonne in sich aufnahm.

Mojalian betrachtete sie mit wachsendem Staunen. Er sah, wie ein leuchtender Schein sie umgab, eine zarte Aura aus Licht, die sie wie ein Gewand zu umhüllen schien. Einzelne Strahlen brachen durch die Dichte der Baumkronen und schienen direkt in ihren Körper einzudringen, als seien sie mit ihr verwoben.

Seine Gedanken kehrten zurück zu jenem Moment am Zauberbogenweiher, als er sie spontan als „Hüterin des Lichts“ bezeichnet hatte. Nun wusste er mit Gewissheit, dass er sich nicht geirrt hatte. Sie war es − die Hüterin des Lichts. Doch, so fügte er in seinen Überlegungen hinzu, sie schien sich dessen selbst nicht bewusst zu sein. Mojalian beschloss, ihr dieses Wissen nicht zu offenbaren. Es war nicht seine Aufgabe, ihr die Wahrheit zu zeigen. Eines Tages, da war er sicher, würde sie es selbst erkennen.

Als Lililja den Ritus beendet hatte, kehrte sie mit ruhigen Schritten zu Mojalian zurück, der geduldig auf dem Pfad gewartet hatte. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Mojalian betrachtete sie mit neuen Augen, mit einem tieferen Verständnis für das Wesen, das vor ihm ging. In seinen Gedanken verweilte eine Frage: Warum wusste sie nicht, dass sie die Hüterin des Lichts war? Schließlich kam er zu dem Schluss, dass die Zeit für diese Erkenntnis wohl noch nicht gekommen war. Vielleicht hatte die mächtige Magie, die in ihr ruhte, schlicht noch keinen Anlass gehabt, sich zu offenbaren.



Mojalian beobachtete, wie Lililja von einer
hellleuchtenden Aura umgeben wurde
und die Sonnenstrahlen in sie eindrangen.

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