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Kaum hatte Lililja die Sonnenwiese hinter sich gelassen, spürte sie, wie die Verbindung zu Mojalian erlosch. Ein freudiger Gedanke keimte in ihrem Inneren: Nun gab es also bereits zwei Orte, an denen sie mit dem Geisterwesen kommunizieren konnte. Vielleicht würden es im Laufe der Zeit noch mehr werden. Diese Vorstellung erfüllte sie mit Hoffnung, denn je mehr solcher Orte existierten, desto unauffälliger würde es erscheinen, wenn sie sich regelmäßig zurückzog, um mit Mojalian zu sprechen.
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Verwundert stellte Lililja fest, dass Nanistra sie anlächelte.
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Mit einem leichten Lächeln, das ihre ernste Sorge für einen Moment überstrahlte, machte sie sich auf den Weg zu Meister Lehakonos′ Anwesen. Dort angekommen, klopfte sie an die schwere Holztür, die sich nach kurzer Zeit öffnete. Wie gewohnt erschien Nanistra, die betagte Hausmagd, im Rahmen. Doch an diesem Morgen geschah etwas, das Lililja überraschte: Nanistra schenkte ihr ein Lächeln. Ein echtes, warmes Lächeln, wie Lililja es noch nie auf ihrem Gesicht gesehen hatte.
Verblüfft erwiderte sie das Lächeln, ehe sie höflich sagte: „Ich würde gerne Meister Lehakonos sprechen.“
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Ohne ein weiteres Wort wandte sich die Hausmagd um und schlurfte voraus. Als sie die Tür zum Studierzimmer erreichten, klopfte sie an und trat ein. Lililja erwartete, das übliche mürrische „Ein Gast“ zu hören, doch stattdessen verkündete Nanistra in überraschend freundlichem Ton: „Lililja wünscht Euch zu sprechen, Hohenmagier.“
Die Wirkung dieser Worte war augenblicklich sichtbar: Meister Lehakonos, der über ein Buch gebeugt hinter seinem massiven Holzschreibtisch saß, richtete sich ruckartig auf und sah seiner Hausmagd mit ebenso viel Verwunderung entgegen, wie Lililja sie empfand.
Nanistra trat zur Seite, ließ Lililja eintreten, und bevor sie den Raum wieder verließ, schenkte sie der jungen Hüterin ein weiteres Lächeln, das ebenso unerwartet wie freundlich war. Dann schloss sie die Tür hinter sich, und Stille erfüllte den Raum.
Leicht irritiert tauschten Lililja und ihr ehemaliger Lehrmeister einen Blick, bis er sie schließlich mit einem herausfordernden Schmunzeln aufforderte, sich zu dem Geschehen zu äußern. Lililja zuckte mit den Schultern und sagte nachdenklich: „Ich weiß auch nicht, warum Nanistra mir gegenüber plötzlich so freundlich ist. Ich habe ihr lediglich gesagt, dass ich Euch zu sprechen wünsche.“
Der Hohenmagier deutete mit einer Hand auf einen Stuhl. „Dann setz dich, Lililja und erzähle: Was führt dich so früh am Morgen zu mir?“
Lililja nahm Platz, doch ihre Miene blieb ernst. „Ich habe heute im Bach an der Sonnenwiese eine Veränderung im Magiefluss bemerkt“, begann sie mit leiser Dringlichkeit. „Es wurde dunkle Magie angewendet.“
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Die Worte wirkten wie ein Donnerschlag. Tiefste Sorgenfalten erschienen auf der Stirn des Hohenmagiers, und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. „Das ist ja furchtbar!“
„Ich glaube jedoch“, fügte Lililja hinzu und erinnerte sich an Mojalians beruhigende Worte, „dass es noch nichts ist, worüber wir uns allzu große Sorgen machen müssen. Vielleicht hat ein Magier, der den Schwur des Lichts geleistet hat, nur aus Neugier mit dunkler Magie experimentiert. Er scheint diesen Schwur noch nicht endgültig gebrochen zu haben. Ich werde die Magieflüsse weiter im Auge behalten. Sollte ich weitere Anomalien feststellen, werde ich Euch unverzüglich benachrichtigen.“
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Lililja berichtete von dem veränderten Magiefluss im Bach an der Sonnenwiese.
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Meister Lehakonos lehnte sich zurück, tief in Gedanken versunken. Schließlich sagte er, seine Stimme schwer vor Sorge: „Das mag sein, Kind. Doch wenn ein Magier erst einmal mit dunkler Magie experimentiert hat, besteht immer die Gefahr, dass er Gefallen daran findet. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Die Zauberweisen müssen informiert werden, damit sie wachsam sind und wir den Schuldigen rasch ausfindig machen können. Er muss mit Nachdruck an die Konsequenzen seines Handelns erinnert werden, bevor es zu spät ist.“
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Meister Lehakonos schickte Skukius los, die Zauberweisen zusammenzurufen.
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Mit diesen Worten erhob er sich, schritt zu einem der hohen Fenster des Studierzimmers und stieß es weit auf. Der kühle Morgenwind strich durch den Raum, während er zwei Worte in die Lüfte sprach: „Maheravo, Skukius!“
Nur wenige Herzschläge später landete der Korvum-Rabe auf dem Fenstersims. Meister Lehakonos wandte sich ihm zu. „Skukius, ich bitte dich, die Zauberweisen zu benachrichtigen und sie zu mir ins Studierzimmer zu rufen.“
Der Vogel nickte und schwang sich in die Lüfte. Seine Silhouette verschwand rasch am blauen Himmel, der sich über dem Wald erstreckte.
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Während Lililja und Meister Lehakonos in geduldiger Erwartung der Ankunft der Zauberweisen verweilten, brach der alte Lehrmeister das Schweigen: „Mir wurde zugetragen, dass du in letzter Zeit den Baum der Magie ungewöhnlich oft aufsuchst. Hat dies eine besondere Bedeutung?“
Sein durchdringender Blick ruhte auf ihr, und Lililja spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie war nicht bereit, ihm von ihrer wiederhergestellten Verbindung zu Mojalian zu erzählen − dieses Geheimnis war ihr zu kostbar, um es jetzt schon preiszugeben. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für eine Antwort, die nur die halbe Wahrheit enthielt.
„Dieser Baum war einst der Ort, an dem Mojalian versuchte, die Magie zu spüren“, erklärte sie schließlich in sanftem Ton. „Immer, wenn mich etwas bedrückt, suche ich ihn auf und erzähle ihm davon. Es fühlt sich an, als würde Mojalian lauschen.“ Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor sie hinzufügte: „Doch hat der Baum mir bislang noch nie geantwortet.“
Meister Lehakonos nickte langsam, und ein Hauch von Wehmut glitt über sein Gesicht. „Ja“, sagte er mit einem schweren Seufzen, „viele Wesen in Vanavistaria vermissen ihn. Mojalian hat Spuren hinterlassen, die so leicht nicht verwehen.“
Kurz darauf trafen die Zauberweisen ein, nacheinander und jeweils von der übellaunigen Nanistra in ihrer typisch kargen Manier angekündigt: „Ein Gast“, oder „zwei Gäste.“ Sobald alle versammelt waren, schilderte Lililja ihre Beobachtungen noch einmal ausführlich.
Kaum hatte sie geendet, dröhnte Jadorucs tiefe Bassstimme durch das Studierzimmer: „Endlich!“ Er betonte das Wort mit einer Mischung aus Triumph und Gereiztheit. „Endlich zeigt der Rabe sein wahres Gesicht.“
Die Worte schlugen wie ein unerwarteter Donner ein. Meister Lehakonos und Lililja starrten den beleibten Magier fassungslos an.
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„Was meint Ihr damit?“, fragte Lililja, und ihre Stimme verriet zugleich Misstrauen und Entrüstung.
„Ihr alle habt es mit eigenen Augen bei Mojalians Verabschiedung gesehen“, begann Jadoruc und richtete sich imposant auf. „Dieser Vogel, Skukius, verfügt über Magie. Ich habe Euch bereits damals gewarnt“ , fuhr er fort und blickte den Hohenmagier mit scharfer Miene an, „dass dieser Vogel höchstwahrscheinlich von einem dunklen Magier gesandt wurde, um uns auszuspähen. Nun zeigt er endlich, wessen Diener er wirklich ist − seine Magie hat ihre wahre Natur offenbart.“
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Jadoruc beschuldigte Skukius, dunkle Magie angewandt zu haben.
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Meister Lehakonos schüttelte entschieden den Kopf. Seine Stimme war ruhig, doch ein fester Nachdruck schwang in ihr mit: „Jadoruc, ich bitte dich, solche unbegründeten Behauptungen nicht laut auszusprechen. Erstens war mir von Anfang an bewusst, dass Skukius Magie in sich trägt − ich hätte ihn sonst niemals zu meinem Unterricht zugelassen. Zweitens weiß ich, dass er diese Magie niemals für dunkle Zwecke einsetzen würde. Er hat den Schwur des Lichtes ohne Zögern geleistet, und ich verbürge mich für ihn.“
„Und ich schließe mich dieser Bürgschaft an“, warf Lililja ein, und ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit. „Skukius hat bei der Sicherung des Waldes geholfen. Er hat die komplizierten Botschaften des Silberfederadlers entschlüsselt und uns zuverlässig übermittelt. Warum sollte er nun plötzlich dunkle Magie anwenden, nachdem er uns beim Schleiersturm so treu unterstützt hat?“
Fast hätte sie noch Skukius′ zentrale Rolle beim Auffinden des Portals verraten, doch sie hielt sich zurück. Sie hatte einst versprochen, dieses Thema niemals anzuschneiden.
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Lililja erzählte Jadoruc von Skukius′ Hilfe beim Sichern des Waldes.
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Jadoruc, der Lililja zuvor mit Skepsis gemustert hatte, wirkte für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Von Skukius′ verdienstvollen Taten hatte er offenbar nichts gewusst – auch, weil er sich stets aus Gerüchten heraushielt und nur wenigen Wesen sein Vertrauen schenkte. Sein übliches Misstrauen geriet ins Wanken, und er schien gezwungen, seine Einschätzung des Korvum-Raben neu zu überdenken.
Nach einer angespannten Stille war es Meister Lehakonos, der das Gespräch wieder aufnahm.
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„Ich denke“, begann er in bestimmtem Ton, „wir sollten uns darauf konzentrieren, nach Magiern Ausschau zu halten, die sich in letzter Zeit auffällig verhalten haben. Dass dunkle Magie angewendet wurde, darf vorerst nicht an die Öffentlichkeit dringen − das würde nur zu unnötiger Panik führen.“
Er warf Lililja einen zustimmenden Blick zu. „Wie unsere Hüterin der Natur und der Magie betont hat, deutet alles darauf hin, dass es sich um eine harmlose, wenngleich bedenkliche Experimentiererei handelt und der Schwur des Lichtes noch nicht wirklich gebrochen wurde. Lililja wird die Magieflüsse weiterhin überwachen und uns sofort informieren, wenn es weitere Veränderungen gibt.“
Lililja nickte ernst.
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„Gut“, schloss der Hohenmagier mit einer Handbewegung, die den Abschluss des Treffens signalisierte. „Das Wesentliche ist gesagt. Ihr könnt alle zu euren Aufgaben zurückkehren. Nanistra wird euch hinausgeleiten.“
Die Zauberweisen erhoben sich einer nach dem anderen und verließen den Raum. Doch bevor Jadoruc sich umdrehen konnte, hielt ihn Meister Lehakonos zurück. „Jadoruc“, sagte er mit eindringlicher Stimme, „ich würde noch gerne kurz unter vier Augen mit dir sprechen.“
Nanistra, die bereits an der Tür wartete, führte die Gruppe mit gemächlichem, schlurfendem Schritt hinaus.
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Lililja wurde beim Hinausgehen von Nanistra erneut mit einem Lächeln bedacht.
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Als Lililja an ihr vorbeiging, erhaschte sie erneut ein warmes Lächeln, das sie zutiefst verblüffte. Dieses unerwartet freundliche Verhalten der alten Magd ließ Lililja ins Grübeln geraten.
Im Inneren des Hauses hatte Meister Lehakonos den Moment genutzt, in dem die Tür hinter dem letzten Zauberweisen ins Schloss fiel, um sich Jadoruc zuzuwenden. „Ich wollte es vor den anderen nicht ausbreiten“, begann er mit leiser, aber gewichtiger Stimme, „doch du musst etwas wissen. Skukius hat eine Vergangenheit, die mit dunkler Magie berührt wurde − nicht, weil er sie selbst wirkte, sondern weil sie gegen ihn eingesetzt wurde. Dass er selbst Magie in sich trägt, ist vermutlich eine Folge dieser Begegnung. Aber ich sage dir, Jadoruc, dieser Vogel würde eher jede einzelne seiner Federn ausreißen, bevor er sich jemals der Dunkelheit verschreibt.“
Jadoruc nickte langsam, ein Hauch von Nachdenklichkeit trat in seine Miene. Es war kein leichtes Unterfangen, ein über Jahre geformtes Bild infrage zu stellen, doch er beschloss, künftig genauer hinzusehen − und den Worten von Meister Lehakonos und Lililja mit mehr Offenheit zu begegnen.
Währenddessen setzte Lililja ihre Runde fort. Es gab noch vieles zu erledigen, bevor sie zum Baum der Magie zurückkehren konnte, um Mojalian von Nanistras seltsamen Wandel zu berichten.
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Lililja versuchte am Mondfelsen die Harmonie der Erde zu fühlen.
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Von der Sonnenwiese, an der sie den Magiestrom des Wassers geprüft hatte, führte ihr Weg zum Mondfelsen. Hier legte sie ihre Hände auf die kühle, raue Oberfläche des Steins und versuchte, die Harmonie der Erde zu spüren. Doch die Eindrücke des Tages − der veränderte Magiefluss, Nanistras unerwartete Freundlichkeit − lenkten ihre Gedanken immer wieder ab.
Dreimal versuchte sie, sich auf die Erde einzustimmen, doch die Konzentration glitt ihr jedes Mal wie feiner Sand durch die Finger. Schließlich seufzte sie leise.
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Vielleicht sollte ich direkt zum Baum der Magie gehen und Mojalian alles erzählen. Dann könnte ich mich vermutlich wieder besser auf meine Aufgaben fokussieren, dachte sie bei sich.
Da erklang plötzlich Mojalians vertraute Stimme in ihren Gedanken: Wovon möchtest du mir berichten?
Lililja erstarrte für einen Moment vor Überraschung. Du kannst mich hören?, fragte sie verblüfft.
Sonst hätte ich wohl kaum gefragt, erwiderte Mojalian trocken, doch in seiner Stimme schwang ein amüsierter Unterton mit.
Lililja runzelte die Stirn, sichtlich verwirrt. Aber… ich bin weder am Baum der Magie, noch an der Sonnenwiese. Und auch kein Schockerlebnis hat unsere Verbindung ausgelöst. Wie kannst du mich ausgerechnet hier hören?
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Wo genau bist du?, wollte Mojalian wissen.
Ich bin am Mondfelsen, erklärte sie mit einem Hauch von Resignation. Ich versuche − vergeblich −, die Harmonie der Erde zu spüren. Meine Gedanken sind einfach zu zerstreut.
Mojalian überlegte einen Moment. Es könnte sein, sagte er schließlich bedächtig, dass dein Schockerlebnis die Verbindung zu mir verstärkt und auf weitere magische Orte ausgedehnt hat. Ein Lächeln war in seinem Ton zu spüren, als er hinzufügte: Wenn du magst, kannst du mir an deiner nächsten Station alles erzählen, was dir auf dem Herzen liegt.
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Lililja wunderte sich, dass sie Mojalian auch am Mondfelsen hören konnte.
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Lililja atmete tief durch und versuchte ein letztes Mal, die Harmonie der Erde zu erspüren − doch auch dieser Versuch scheiterte. „Es hat keinen Zweck“, murmelte sie leise zu sich selbst. „Es gibt heute einfach zu viel, was mich beschäftigt.“
Entschlossen wandte sie sich dem nächsten Ziel zu: dem Wolkenhügel. Dort wollte sie eine rituelle Luftreinigung vornehmen, um den harmonischen Magiefluss des Windes zu sichern. Dieses Mal gelang es ihr, den Ritus mit der notwendigen Konzentration auszuführen. Doch kaum hatte sie ihre Aufgabe beendet, drängte sich eine Frage in ihre Gedanken.
Mojalian, begann sie zögernd, hast du eine Ahnung, warum Nanistra mich plötzlich anlächelt? So etwas hat sie früher nie getan!
Doch es blieb still in ihrem Geist, und eine leise Enttäuschung machte sich in ihr breit. Schade, dachte sie betrübt. Mojalian hat sich wohl geirrt.
Da ertönte seine Stimme erneut, sanft und leicht neckend: Geirrt? Habe ich nicht. Ich dachte nur darüber nach, wie ich deine Frage am besten beantworten soll.
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Mojalian überlegte, was er auf Lililjas Frage antworten sollte.
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