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Am darauffolgenden Nachmittag trat Arokando mit einer frohen Nachricht an Rafyndor heran: Seine Nachbarn hatten der Einladung zugestimmt und würden am Abend erscheinen.
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Rafyndor, der bereits am Vorabend mit Lililja gesprochen hatte, war erleichtert. Er hatte ihr von Arokandos erstaunlichem Verdacht berichtet − dass die Blauschnäuzchen eine besondere Abneigung gegen Wesen hegten, die dunkle Magie praktiziert hatten. Ein Verdacht, so faszinierend und unkonventionell, dass er eine Untersuchung rechtfertigte. Aus diesem Grund hatte er das geplante Treffen mit Lililja kurzerhand abgesagt.
Lililja hatte seiner Schilderung mit bewunderndem Staunen gelauscht. Dass ein junger Goblin, der erst seit einem Tag mit ihnen arbeitete, eine Theorie aufgestellt hatte, die so vielversprechend war, erfüllte sie mit Respekt.
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Rafyndor hatte am Abend zuvor Lililja über Arokandos Theorie informiert und ihr erzählt, dass sie am nächsten Abend einen Versuch starten wollten.
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Seit Jahrhunderten wurden die Blauschnäuzchen in großen Arealen gehalten, und doch hatte niemand zuvor diesen möglichen Zusammenhang bemerkt. Für sie stand außer Frage, dass dieses Experiment Vorrang haben musste. „Du musst mir aber unbedingt vom Ergebnis berichten!“, hatte sie ihn eindringlich gebeten. Rafyndor hatte ihr dies natürlich zugesichert.
„Was hast du ihnen gesagt, damit sie zusagen?“, fragte Rafyndor nun mit aufrichtigem Interesse. Ihm war klar, dass es keine leichte Aufgabe gewesen sein konnte, zwei verfeindete Nachbarn zu einer gemeinsamen Unternehmung zu bewegen.
Arokando grinste verschmitzt, bevor er antwortete: „Ich habe ihnen zunächst erzählt, dass ich jetzt gelegentlich mit dem Obersten Waldhüter von Vanavistaria zusammenarbeite. Das hat sie schon ziemlich beeindruckt. Dann erwähnte ich, dass ich dem Waldhüter von ihnen berichtet habe − das schmeichelte ihnen natürlich ungemein. Und erst danach sagte ich, dass der Waldhüter sie gerne einmal persönlich kennenlernen würde, nachdem ich ihm so viel von ihnen erzählt hatte. Schließlich erklärte ich, dass der Oberste Waldhüter sich erkundigt habe, ob sie Interesse daran hätten, bei einer Beobachtung der scheuen Blauschnäuzchen teilzunehmen. Das hat sie so sehr gebauchpinselt, dass sie gar nicht anders konnten, als zuzusagen.“
Rafyndor lächelte breit und neigte anerkennend den Kopf. „Clever gemacht!“
Den Nachmittag verbrachten die beiden mit der Reparatur der Umzäunung des Blauschnäuzchen-Areals, eine Aufgabe, die sie noch nicht abgeschlossen hatten. Während sie arbeiteten, gesellte sich plötzlich Rangalo zu ihnen − ein fröhlicher Anblick inmitten der schweißtreibenden Arbeit.
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Rangalo warf über Rafyndor und Arokando Federn und Blätter ab.
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Mit ausgelassener Laune ließ der kleine Vasta-Sperling bunte Federn und Blätter über die beiden regnen, die er zuvor in einem Tuch gesammelt hatte.
Arokando lachte vor Freude, als er Rangalo sah, während Rafyndor lediglich die Augen verdrehte. Genervt begann er, sich die Blätter und Federn aus dem Haar zu zupfen, bevor er ohne Kommentar wieder zur Arbeit zurückkehrte. Bis die Sonne tief über den Horizont sank und die Landschaft in ein sanftes Orange tauchte, arbeiteten sie weiter, ehe sie schließlich gemeinsam zu Rafyndors Hütte zurückkehrten.
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„Du machst hervorragende Arbeit“, lobte Rafyndor den jungen Goblin, als sie ihre Werkzeuge beiseitelegten. „Ich denke, wir sind ein wirklich gutes Team.“
Arokando lächelte stolz über diese Anerkennung, die ihm sichtlich viel bedeutete.
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Vor der Hütte wartete bereits einer der geladenen Nachbarn. Es handelte sich um einen schlanken, mittelgroßen Erdgeist, dessen Alter auf etwa fünfzig Jahre zu schätzen war. Sein schwarzgraues, lockiges Haar umrahmte ein Gesicht mit den typisch gelben Augen seiner Art und einem etwas ungepflegten Vollbart. Seine Erscheinung wurde durch einen violetten Umhang und einen bunten Schal abgerundet, die ihm einen Hauch von Exzentrik verliehen.
Der zweite Nachbar ließ jedoch noch auf sich warten − sehr zu Rafyndors Erleichterung.
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Padoso, der Erdgeist, wartete schon vor Rafyndors Hütte.
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Insgeheim war er froh, dass die beiden nicht zeitgleich erschienen waren. Wer wusste schon, ob seine Hütte nach einem Aufeinandertreffen der beiden Streithähne noch stehen würde?
Mit einer gewissen Feierlichkeit in der Stimme wandte sich Arokando an Rafyndor: „Waldhüter, gestattet mir, Euch meinen Nachbarn Padoso vorzustellen − jenes Wesen, von dem ich Euch bereits so viel berichtet habe.“
Arokandos ehrfurchtsvolle Redeweise entlockte Rafyndor ein flüchtiges Schmunzeln, bevor er die Haltung eines gebieterischen Obersten Waldhüters annahm. Mit ernster Miene entgegnete er: „Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen, Padoso. Sag, wird dein Nachbar, jener andere, von dem der junge Goblin ebenfalls so viel zu erzählen wusste, sich ebenfalls zu uns gesellen?“
Padoso, ein Erdgeist mit von Ehrfurcht geprägtem Blick, nickte wortlos. Rafyndor konnte sich ein amüsiertes Grinsen kaum verkneifen. Er ahnte, dass es vor allem die geschickte Inszenierung Arokandos war, die diesen Effekt hervorrief.
Einige Minuten vergingen in einer bewusst geschaffenen Stille, die nur vom Rascheln der Blätter und dem Rauschen des Windes unterbrochen wurde. Schließlich erschien der zweite Nachbar, und Padoso schien sichtlich erleichtert über dessen Ankunft.
Mit einer nicht minder ehrfurchtsvollen Stimme wie zuvor erklärte Arokando: „Waldhüter, dies ist Pachinus, mein anderer Nachbar, von dem ich Euch ebenso viel erzählt habe.“
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Kurze Zeit später traf auch Pachinus, der Elf, ein.
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Pachinus war ein hochgewachsener Elf, dessen schulterlanges, graues Haar und sorgsam gestutzter Bart seiner Erscheinung eine gewisse Eleganz verliehen. Trotz dieser Gepflegtheit verriet sein Blick Arroganz, und seine Haltung sprach von Überheblichkeit. Arokandos ehrerbietiger Ton prallte an ihm ab wie Regen an einer polierten Rüstung. „Waldhüter“, grüßte er mit einem kühlen, herablassenden Nicken.
Rafyndor begrüßte die beiden offiziell, wobei seine Stimme der Würde und Autorität, die seiner Stellung gebührte, entsprach.
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„Ich hoffe, wir werden gemeinsam einen interessanten Abend verbringen“, schloss er seine Worte, bevor er sich an Arokando wandte. „Junger Goblin, ich danke dir für deine Unterstützung. Ich hoffe, du wirst auch morgen wieder Zeit finden, mir zur Hand zu gehen. Doch für heute entlasse ich dich.“
Mit einem knappen Nicken wandte sich Rafyndor ab und schritt in Richtung des Blauschnäuzchen-Areals. Kein Blick zurück, keine weitere Regung. Er hoffte, dass Arokando ihm dieses etwas schroffe Verhalten nachsehen würde − es war schließlich dem von Arokando geschaffenen Bild des erhabenen Waldhüters geschuldet, das Rafyndor nun weiter zu verkörpern gedachte.
Rafyndor spürte die Präsenz der beiden Nachbarn hinter sich, doch er drehte sich nicht um. Er nahm an − oder besser: er hoffte −, dass sie ihm folgten. Während er durch den Wald schritt, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Vielleicht würden die beiden sich bereits unterwegs in einen Streit verwickeln, was ihre magische Energie entfesseln könnte. Das wiederum würde die Reaktion der Blauschnäuzchen nur umso deutlicher machen.
Tatsächlich vernahm er nach einigen Metern die ersten leisen Wortgefechte.
„Wie kannst du es wagen, dem Obersten Waldhüter von Vanavistaria mit solch einem überheblichen Verhalten zu begegnen?“, begann Padoso in tadelndem Ton.
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Pachinus antwortete ebenso leise, aber nicht minder spitz: „Überheblich? Ich habe ihn doch begrüßt − das sollte genügen. Außerdem siehst du ja selbst, was das für einer ist. Er lädt uns ein und kümmert sich dann nicht einmal darum, ob wir ihm folgen!“
„Er ist der Oberste Waldhüter von Vanavistaria!“, entgegnete Padoso entrüstet. „Er hat sicherlich Wichtigeres zu tun, als sich um uns gewöhnliche Wesen zu kümmern. Schon, dass er uns überhaupt seine Aufmerksamkeit schenkt, ist ein unverhofftes Privileg!“
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Schon während des Gangs durch den Wald begannen die beiden Nachbarn zu streiten.
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Ein leises Lachen entkam Pachinus, und seine Stimme wurde nun deutlich hörbarer. „Natürlich beeindruckt dich sein Titel. Das war ja zu erwarten! Du bist so leicht zu beeindrucken.“
Padosos Tonfall wurde schärfer. „Und es war ebenso vorhersehbar, dass du dich nicht zu benehmen weißt − nicht einmal gegenüber einer so hochgestellten Persönlichkeit!“
Die Streiterei gewann an Lautstärke, während der Waldweg sich durch das dämmernde Grün des Waldes zog. Rafyndor ließ die Auseinandersetzung kommentarlos hinter sich und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Endlich erreichte er das Areal der Blauschnäuzchen.
Wie gewohnt liefen ihm die Tiere entgegen, ihre neugierigen Augen glitzerten, und ihre Bewegungen verrieten die Hoffnung auf eine Futtergabe. Doch kaum hatten sie Padoso und Pachinus entdeckt, erstarrten sie für einen kurzen Moment − dann wandten sie sich hastig ab und flohen in die hintersten Winkel ihres Areals.
Rafyndor nickte anerkennend, während er die Reaktion beobachtete. Arokandos Theorie ist tatsächlich zutreffend, dachte er. Die Blauschnäuzchen flüchten vor Wesen, die in Berührung mit dunkler Magie standen.
Der Streit der beiden Nachbarn war inzwischen in einer derart hitzigen Eskalation begriffen, dass die ersten gegenseitigen Beleidigungen bereits die Luft vergifteten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dunkle Flüche ausgesprochen werden würden − und doch griff Rafyndor nicht ein. Mit unverhohlener Neugier beobachtete er, wie die verbale Auseinandersetzung an Schärfe gewann und die Spannung zwischen den Kontrahenten fast greifbar wurde.
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Als Pachinus den ersten Fluch abfeuern wollte, sprang ein Blauschnäuzchen herbei.
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Pachinus, sichtlich erzürnt, hob bereits die Hände, um den ersten dunklen Fluch gegen Padoso auszusprechen, als plötzlich und völlig unerwartet ein Blauschnäuzchen herbeisprang. Rafyndor erkannte das Tier augenblicklich: Es war das gleiche, das er unlängst wieder hatte einfangen müssen, nachdem es die Umhegung überwunden und sich über die berüchtigte Pilogi-Pflanze hergemacht hatte.
Rafyndor beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Pachinus seinen Fluch schleuderte − oder es zumindest versuchte. Doch nichts geschah. Der Fluch verpuffte ins Nichts.
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Padoso, erst verdutzt, dann wütend über den gescheiterten Angriff, setzte nun seinerseits an, einen dunklen Fluch gegen Pachinus zu richten. Doch auch dieser verpuffte wirkungslos. Die beiden Nachbarn tauschten verblüffte Blicke, dann wiederholten sie ihre Versuche, doch das Ergebnis blieb unverändert.
Rafyndor war wie erstarrt. Konnte das kleine Blauschnäuzchen, das dort aufmerksam in ihrer Nähe verharrte, etwas mit dem Scheitern der Flüche zu tun haben? Sein Blick heftete sich auf das Tier, und er bemerkte etwas Merkwürdiges: Während der Aussprache der Flüche verfärbte sich das blaue Schnäuzchen des Wesens für den Bruchteil eines Augenblicks in ein intensives Orange-Gelb – die Farbe der Pilogi-Pflanze − bevor es wieder zu seinem ursprünglichen Blau zurückkehrte.
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Fassungslos begann Rafyndor die Tragweite dieser Beobachtung zu erfassen.
Seit unzähligen Generationen wurden die Blauschnäuzchen in einem umzäunten Areal gehalten, angeblich, um sie vor den Pilogi-Pflanzen zu schützen, deren Verzehr ihnen Schmerzen bereitete.
Und nun musste er erkennen, dass diese Pflanzen den Tieren offenbar eine Fähigkeit verliehen, die sie gegen dunkle Magie wappnete. Wie war es möglich, dass niemand dies je bemerkt hatte?
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Rafyndor beobachtete, wie die blaue Nase der Blauschnäuzchen im Moment des Fluchspruchs orange aufleuchtete.
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Doch die Antwort lag auf der Hand: Es waren die hellen Magier, die die Blauschnäuzchen eingezäunt hatten. Für sie zeigte das Verhalten der Tiere keine Besonderheit, außer ihrer unbändigen Gier nach den schädlichen Pflanzen. Erst die Nähe von dunkler Magie offenbarte ihre außergewöhnliche Reaktion.
Rafyndor war tief beeindruckt von Arokandos Weitsicht. Hätte dieser junge Goblin nicht den Entschluss gefasst, den Streit seiner Nachbarn mithilfe dunkler Magie zu schlichten, hätte er Rangalo nicht verletzt, wodurch der Rat gezwungen war einzugreifen, und hätte Rafyndor ihm nicht die Gelegenheit gegeben, an seiner Seite zu arbeiten − all dies wäre unentdeckt geblieben. Und doch hatte Arokando in kaum mehr als einem einzigen Tag das Geheimnis der Blauschnäuzchen gelüftet.
Nur gut, dachte Rafyndor, noch immer staunend, dass Lililja sich durchgesetzt hat und dieser hochintelligente Bursche nicht vom Unterricht ausgeschlossen wurde. Mit Sicherheit wird er eines Tages ein bedeutendes Amt in Vanavistaria übernehmen.
Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als er bemerkte, dass der Streit der Nachbarn merklich leiser geworden war. Padoso und Pachinus standen einander nun lediglich verdutzt gegenüber, jegliche aggressive Spannung schien verflogen.
In seiner Rolle als wissender Waldhüter trat Rafyndor einen Schritt nach vorne, sein Gesichtsausdruck war von gespielter Gelassenheit geprägt. „Wie ihr sehen könnt“, begann er mit ruhiger Stimme, „haben eure dunklen Flüche hier in der Nähe der Blauschnäuzchen keinerlei Wirkung. Es war Arokandos Idee, euch an diesen Ort zu führen, damit ihr endlich miteinander sprecht, ohne gleich zu extremen Mitteln zu greifen. Er sorgt sich um euch und wünscht sich, dass ihr Frieden findet − wie zu den Zeiten Mojalians. Deshalb schlug er vor, euch diesen besonderen Platz zu zeigen. Solltet ihr in Zukunft erneut in Streit geraten, tragt ihn doch einfach hier aus. So wird nichts geschehen, was ihr später bereuen müsst.“
Mit diesen Worten drehte Rafyndor sich um, ließ die beiden verdutzten Nachbarn zurück und schritt gemessenen Schrittes zurück zu seiner Hütte. Doch innerlich war er zu aufgewühlt, um wirklich zur Ruhe zu kommen. Die bahnbrechende Erkenntnis über die Blauschnäuzchen beschäftigte ihn zu sehr, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Er sehnte sich danach, seine Entdeckung Pranicara und Lililja mitzuteilen, doch die Nacht hatte bereits ihren Schleier über die Welt gelegt, und die ersten Sterne funkelten am Himmel. Es wäre nicht recht, ihre Nachtruhe zu stören, nur weil er selbst gewiss kein Auge zutun würde.
So beschloss er, bis zum Morgen zu warten, um ihnen die unglaublichen Ereignisse zu schildern. Doch eines war sicher: Pranicara würde Augen machen!
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Rafyndor wollte am nächsten Morgen Lililja und Pranicara von seinen Erkenntnissen bezüglich der Blauschnäuzchen erzählen.
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