zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis3p) Zusammenbruch


Zusammenbruch

Gemeinsam traten Meister Lehakonos, Lililja und Nanistra in die Kristallhöhle ein. Die ersten Zauberwesen hatten sich bereits eingefunden, und als deren Blicke auf die alte Hausmagd des Hohenmagiers fielen, weiteten sich ihre Augen in blankem Erstaunen. Es war nicht allein Nanistras Anwesenheit, die sie überraschte − die mürrische Alte hatte bislang nie an den Zusammenkünften teilgenommen − sondern vielmehr ihr Erscheinungsbild: Die gebeugte, in die Jahre gekommene Magd wirkte plötzlich deutlich jünger, ja beinahe erfrischt, und schritt mit Leichtigkeit neben dem ehrwürdigen Lehrmeister und der jungen Elfe einher. Niemand aus der Zaubergemeinschaft hatte sie je so gesehen.

Während die Höhle sich zusehends mit Zauberwesen füllte, verbreitete sich die Nachricht, dass die Inschrift am Kristall verändert worden war. Das führte dazu, dass zahlreiche Anwesende die Versammlung vorübergehend verließen, um sich die Veränderung selbst anzusehen. Mit verwirrten Blicken kehrten sie schließlich zurück, die Aufmerksamkeit unverwandt auf Nanistra gerichtet. Was mochte dies alles bedeuten?



Rafyndor blieb wie erstarrt am Eingang zur Versammlungshöhle stehen, als er Nanistra erblickte.

Rafyndor betrat die Höhle, begleitet von Pranicara, während Skukius auf seinem Unterarm hockte.

Doch kaum hatte er Nanistra erblickt, verharrte er wie angewurzelt. Seine Augen weiteten sich, und er begann langsam und stumm den Kopf zu schütteln. Lililja beobachtete ihn besorgt. Sie wusste, dass er sich noch immer gegen die Wahrheit sperrte, die sie ihm am Vortag anvertraut hatte.

Mit einer leisen Entschuldigung wandte sie sich von Nanistra und Meister Lehakonos ab und trat zu Rafyndor.

Sein Blick blieb verschleiert, und er schüttelte weiter den Kopf, als wollte er das Gesehene aus seinem Geist verbannen. Mit einer raschen Geste bedeutete Lililja Skukius, Rafyndors Arm zu verlassen. Der Vogel verstand und flatterte zu Pranicara hinüber, die bereits weitergegangen war, nachdem sie bemerkt hatte, dass Lililja sich um Rafyndor kümmerte.

„Rafyndor“, sprach Lililja sanft und legte ihre Hand leicht auf seinen Arm, „komm, lass uns zu den anderen gehen.“ Sie zog leicht an seiner Hand, doch er rührte sich keinen Millimeter. „Rafyndor“, wiederholte sie in beschwörendem Ton, „sieh mich an!“ Doch obwohl er den Kopf neigte, blieb sein Blick trüb und fern.

Nach einem kurzen Zögern stellte sich Lililja auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie beobachtete, wie ein Funke Klarheit in seine Augen zurückkehrte. Rafyndor fasste sich langsam an die Wange und starrte sie ungläubig an. „Hast du mich gerade geküsst?“, fragte er verdattert.

Lililja lächelte schelmisch. „Ich musste dich aus deiner Schockstarre holen“, erklärte sie, „du warst ja überhaupt nicht mehr ansprechbar!“

Rafyndor schüttelte leicht den Kopf und lächelte schließlich zurück. „Du wirst in letzter Zeit wirklich aufdringlich“, sagte er grinsend. „Erst gestern das eng umschlungene Laufen, und jetzt ein Kuss auf die Wange. Ich komme nicht umhin, mir Gedanken zu machen, was das wohl bedeuten mag.“

Lililja lachte leise und winkte ab, bemüht, keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. „Das bedeutet nur, dass ich dich, kleinen Waldgeist, von Herzen lieb habe und mir wünsche, dass du hier nicht den Eingang blockierst. Schließlich wollen noch andere Zauberwesen in die Versammlungshöhle kommen.“ Sie nahm erneut seine Hand und zog ihn sanft mit sich, diesmal ohne Widerstand.



Lililja schffte es, Rafyndor mit einem Kuss auf die Wange aus seiner Erstarrung zu lösen.

Gemeinsam gesellten sie sich zu Pranicara, die mit Skukius auf dem Unterarm bereits bei Meister Lehakonos und Nanistra stand. Pranicara musterte die alte Hausmagd des Hohenmagiers mit einem prüfenden Blick und stellte schließlich nüchtern fest: „Ihr habt Euch verändert − zum Positiven.“

Nanistra nickte mit einem zufriedenen Lächeln. „Danke“, antwortete sie, „ich denke, dieser Tag wird als ‚Tag der Enthüllungen‘ in die Annalen Vanavistarias eingehen.“

Pranicara zog eine Braue hoch, als wollte sie nachfragen, doch Nanistra schien nicht gewillt, weiter ins Detail zu gehen. Somit wandte sich die Waldgeistfrau an Lililja, die sie mit einem etwas verlegenen Lächeln begrüßte. Lililja hatte bisher keine Gelegenheit gefunden, Pranicara von ihrer Bestimmung zu erzählen, und fürchtete deren Reaktion ein wenig. Immerhin war Rafyndor nun vorgewarnt − ein erneuter Zusammenbruch war daher unwahrscheinlich. Doch es war ohnehin zu spät, noch etwas zu verbergen. Bald würde alles offenbar werden.

Als sich alle Zauberwesen in der Versammlungshöhle eingefunden hatten, traten Meister Lehakonos, Nanistra und Lililja entschlossen an das Podium und stiegen die Stufen hinauf. Augenblicklich erstarb der vielstimmige Lärm, und eine gespannte Stille legte sich über die Menge. Mit seiner gewohnten, ruhigen Sanftheit trat Meister Lehakonos an den Rand des Podiums und begann zu sprechen:



Meister Lehakonos, Lililja und Nanistra stiegen gemeinsam zum Podium hoch, um zur Zaubergemeinschaft zu sprechen.

„Geschätzte Zauberwesen Vanavistarias, leider eint uns heute eine Nachricht von düsterer Natur. Unser geliebtes Land sieht sich einer ernsten Bedrohung ausgesetzt, hervorgebracht durch einen mächtigen dunklen Magier. Wer dieser Magier ist, bleibt bislang im Verborgenen, doch die ersten Vorboten seiner dunklen Absichten sind unübersehbar. Unsere Hüterin der Natur und der Magie hat bemerkt, wie die Lilochoda erbleichen und sich verdunkeln − ein klares Zeichen, dass der dunkle Magier danach trachtet, unsere Lebensenergie zu schwächen und unsere Zuversicht zu erschüttern. Zudem vermutet sie, dass dieser Magier den Hauchzauberdunst, der morgen über Vanavistaria herabsinken soll, auf perfide Weise zu manipulieren gedenkt.“

Ein leises Raunen ging durch die Reihen, und schließlich rief ein vorlauter junger Vykati aus einer der hinteren Ecken: „Woher will sie das denn wissen?“ Der Sprecher war ein schlanker, braunhaariger Zauberer, dessen Stimme spöttisch klang.

Noch bevor Meister Lehakonos antworten konnte, trat Nanistra vor und sprach mit fester Stimme: „Weil Lililja die Hüterin des Lichtes ist.“

Die Versammlung erstarrte in sprachloser Verblüffung. Die Augen der Anwesenden suchten sich gegenseitig, als wollten sie sich vergewissern, dass alle das Gleiche gehört hatten. Was erlaubte sich die alte Hausmagd, sich einzumischen? Und was in aller Welt war eine Hüterin des Lichtes? Ein unruhiges Murren begann sich auszubreiten.

Meister Lehakonos hob gebieterisch die Hand, und allmählich kehrte Ruhe ein. „Meine lieben Zauberwesen von Vanavistaria“, begann er erneut mit fester, aber milder Stimme, „es mag euch überraschen, dass ich heute meine langjährige Hausmagd Nanistra mitgebracht habe, die ihr alle nur als uralte Dienerin kennt. Ebenso habt ihr sicherlich bemerkt, dass die Inschrift an der Kristallhöhle verändert wurde. Es gibt viel, das ich euch erklären muss.

Nanistra hat über Jahre hinweg ein großes Geheimnis bewahrt − nicht aus Eitelkeit, sondern weil es nicht notwendig war, es preiszugeben. Doch angesichts der drohenden Gefahr hat sie nun entschieden, ihre wahre Identität zu offenbaren.

Nanistra ist die letzte Nachfahrin von Tarodastrus, dem berühmten Sternenseher, der durch seine Prophezeiungen aus dem Zeitalter der leuchtenden Sterne unvergessen bleibt. Was jedoch selbst mir bis vor Kurzem verborgen blieb, ist die Tatsache, dass auch Tarodastrus ein Hüter des Lichtes war. Er kämpfte Seite an Seite mit Resogurion, einem Geisterwesen von der Hüterwelt Valivisia, und vernichtete den dunklen Magier Vasodust, um Vanavistaria zu retten.“



Meister Lehakonos klärte die Zaubergemeinschaft für Tarodastrus, den damaligen Hüter des Lichtes auf, der zusammen mit dem Geisterwesen Resogurion den dunklen Magier Vasodust vertrieben hatte.

Eine gespannte Stille legte sich über die Versammlung. Kein Laut war zu hören, nur das leise Gurgeln des Wasserspiels, das seine Melodie in der Höhle erklingen ließ.

„Aus diesem Grund“, fuhr Meister Lehakonos fort, „möchte ich nun Nanistra bitten, uns von der drohenden Gefahr und den Möglichkeiten unserer Verteidigung zu berichten.“

Mit einer leichten Verbeugung trat der Hohenmagier zurück und machte der einst unscheinbaren, nun aber beinahe erhabenen Nanistra Platz.

Mit festem Schritt trat Nanistra an den Rand des Podiums, ihre Haltung aufrecht, ihre Präsenz strahlend. Als sie zu sprechen begann, hallte ihre Stimme laut und klar durch die Höhle − eine Stimme, die niemand, der sie bislang nur als Hausmagd kannte, ihr je zugetraut hätte.



Nanistra berichtete der Zaubergemeinschaft von den Gründen, die Tarodastrus bewegt hatten, viele Informationen in den Geschichtsbüchern zu tilgen.

„Meine verehrten Zauberwesen von Vanavistaria“, setzte sie an, „es ist wahr: Ich bin eine Nachfahrin Tarodastrus′.

Doch Tarodastrus, ein Mann der Zurückhaltung und Vorsicht, hatte nie das Verlangen, im Mittelpunkt zu stehen. Er tat alles, um gewisse Wahrheiten zu verbergen, ja, sogar aus den Chroniken unserer Geschichte zu tilgen. Was für manche wie ‚Geschichtsfälschung‘ erscheinen mag, war für ihn ein Akt des Selbstschutzes − und des Schutzes für kommende Generationen.

Zu den ausgelöschten Wahrheiten zählt auch, dass seit Anbeginn dieser Welt in jeder Generation ein Hüter des Lichtes geboren wurde.

Tarodastrus trug diese Bürde sein Leben lang mit sich, eine Bürde, die jedoch nur in Zeiten größter Not von Bedeutung war. Um nachfolgende Generationen, insbesondere Kinder, von dieser Last zu befreien, entschied er, den Hinweis auf den Hüter des Lichtes aus den Überlieferungen zu entfernen.

Nun aber, da die Dunkelheit erneut droht, ist es an der Zeit, dieses Wissen zurück ans Licht zu bringen. Denn der Hüter des Lichtes ist kein Amt, das man sich aussucht oder das durch Wahl verliehen wird − es ist ein Geschenk, das mit der Geburt eines Auserwählten einhergeht. In unserer Zeit ist Lililja diese Hüterin. Ihre Bestimmung ist es, Vanavistaria vor der nahenden Bedrohung zu schützen. Die Magie des Lichtes, die in ihr schlummert, wird hervorbrechen, wenn der rechte Moment gekommen ist.“

Nanistras Worte hallten durch die Höhle, und Lililja spürte die Blicke der Zauberwesen auf sich. Doch während Nanistra sprach, suchten ihre Augen unwillkürlich die Gesichter von Rafyndor und Pranicara. Rafyndor wirkte noch immer angespannt, sein Blick unruhig, und Lililja sah, wie er sich an Skukius wandte, der tröstend auf seiner Schulter hockte. Doch zu ihrer Überraschung bemerkte sie auch, dass Pranicara langsam und bedächtig nickte − als wäre ein inneres Bild plötzlich klar geworden.

Nanistra schloss ihre Rede mit einer würdevollen Verbeugung, und für einen Augenblick war die Höhle in erwartungsvolle Stille gehüllt. Es war nun an Lililja, die Versammlung zu einen, die Herzen der Zauberwesen zu berühren und sie für die bevorstehende Aufgabe zu rüsten. Sie atmete tief durch, ihre Gedanken suchten Halt bei Mojalian, dem Geisterwesen, das sie seit ihrer Kindheit begleitete.

Mojalian, flehte sie stumm, lass mich nicht scheitern. Wenn meine Stimme zittert oder die Worte versagen, hilf mir!

Sanft und tröstlich erklang Mojalians Antwort in ihrem Geist: Natürlich, mein Liebling. Ich bin hier, wenn du mich brauchst.

Lililja trat vor und hob den Blick, während ihr Herz pochte wie ein Trommelwirbel vor einer Schlacht. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme zunächst leise, doch mit jedem Satz wuchs ihre Überzeugung. Bald schon flossen die Worte wie ein klarer Strom aus ihr heraus, voller Leidenschaft und einer Stärke, die sie selbst kaum von sich gekannt hatte.



Lililja bat Mojalian um geistige Unterstützung bei ihrer Rede.

„Liebe Zauberwesen von Vanavistaria,

ich stehe heute vor euch als Hüterin des Lichtes, nicht aufgrund einer Wahl, sondern aufgrund eines Schicksals, das mir auferlegt wurde. Die Dunkelheit, die über unsere Welt hereinbricht, verlangt von uns eine Einigkeit, wie sie Vanavistaria noch nie gesehen hat. Ich mag jung sein und meine Erfahrungen begrenzt, aber ich trage die Magie des Lichtes in meinem Herzen, und das verleiht mir die Kraft, die wir alle benötigen, um dieser Bedrohung entgegenzutreten.



Lililja schwor die Zaubergemeinschaft aufeinander ein, gemeinsam gegen die Bedrohung vorzugehen.

Wir sind eine Gemeinschaft von Zauberwesen, Elfen, Waldgeistern, Vykati, Goblins, und so vielen anderen magischen Geschöpfen. Jeder von uns und jedem von euch wohnt eine einzigartige Magie inne, eine Gabe, die unsere Welt gestaltet hat. Doch heute steht diese Welt vor einer Dunkelheit, die unsere Existenz bedroht. Unsere Vielfalt sollte uns nicht spalten, sondern unsere größte Stärke sein.

Es ist wahr, dass ich jung bin und wenig Erfahrung habe, aber ich bin nicht allein. Wir sind eine Gemeinschaft, und ich vertraue auf die Weisheit und Erfahrung jedes Einzelnen von euch. Zusammen können wir die Dunkelheit bekämpfen, die unsere Welt bedroht. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass wir vereint, in Zeiten der Gefahr, große Taten vollbringen können.

Tarodastrus und Resogurion haben sich einst vereint, um die Dunkelheit zu besiegen und uns den Frieden zu schenken, den wir heute genießen. Wir sind ihre Erben.

Lasst uns gemeinsam gegen die Dunkelheit antreten, nicht als Elfen, Vykati, Waldgeister, oder andere magische Wesen, sondern als Zaubergemeinschaft von Vanavistaria. Die Dunkelheit kennt keine Völker oder Grenzen.

Sie bedroht alles, was wir lieben und schätzen. Wir werden nicht zulassen, dass sie siegt. Wir werden unser Licht entfachen, und es wird stärker brennen als je zuvor. Lasst uns unsere Gaben und Kräfte vereinen, um Vanavistaria zu schützen und eine Zukunft zu schaffen, in der das Licht immer über die Dunkelheit siegt.

Wir werden diese Dunkelheit besiegen, nicht weil ich es sage, sondern weil wir es gemeinsam tun werden. Wir sind die Zaubergemeinschaft von Vanavistaria, und wir sind stärker als jede Dunkelheit.“

Ein rauschender Applaus erfüllte die Versammlungshöhle, ein Echo von Zustimmung und Zuversicht. Inmitten dieses Beifalls vernahm Lililja die sanfte Stimme Mojalians in ihrem Geist. Sie war wie ein zärtlicher Hauch, der durch die Dimensionen drang.

Das hast du wunderbar gemacht, mein Liebling, sprach Mojalian mit einer Wärme, die sie umfing wie ein Mantel. Du hast ihre Herzen gewonnen. Ihr werdet es schaffen!

Nanistra schenkte Lililja ein anerkennendes Lächeln, während Meister Lehakonos ebenso begeistert applaudierte wie die übrigen Anwesenden. Selbst Pranicara klatschte, wenn auch mit einem Ausdruck stiller Nachdenklichkeit. Doch einer blieb außen vor − Rafyndor. Er stand da, in sich gekehrt, ohne die Hände zu rühren, und seine Miene war von einem tiefen Unbehagen gezeichnet.



Mojalian lobte Lililja für ihre Rede.

Meister Lehakonos trat erneut vor, sein Blick ernst und seine Stimme fest. „Leider“, begann er ohne Umschweife, „wissen wir nicht, wo sich der dunkle Magier verbirgt. Wie schon bei der Suche nach dem Portal werden wir auch hier die Mithilfe aller Zauberwesen benötigen. Forscht nach, folgt eurer Intuition, und versucht herauszufinden, wo dieser gefährliche Magier Unterschlupf gefunden haben könnte. Doch seid vorsichtig! Alles deutet darauf hin, dass wir es mit einem Gegner von immenser Macht zu tun haben. Handelt im Verborgenen, und vor allem: Gebt auf euch Acht.“

Mit diesen eindringlichen Worten schloss der alte Lehrmeister das Treffen, und gemeinsam verließen die drei − Meister Lehakonos, Nanistra und Lililja − das Podium, um zu Pranicara und Rafyndor zurückzukehren.

Lililjas Blick suchte den des Waldgeistes, und ihre Besorgnis verstärkte sich. Rafyndor war blass, doch in seinen Augen lag eine Klarheit, die zuvor gefehlt hatte. Es war, als hätte er endlich die bittere Wahrheit angenommen, die er so lange zu verleugnen versucht hatte.



Rafyndor begann zu weinen, als Lililja ihn in die Arme nahm.

Als sie ihn in die Arme nahm, spürte sie, wie sein Körper zu beben begann. Zunächst leise, dann immer stärker drang ein Schluchzen aus ihm hervor − der Kummer eines Wesens, das begreifen musste, dass es sie loslassen musste. Sie gehörte nicht mehr nur ihm, sondern der Welt.

Lililja hielt ihn fest, ihre Arme schützend um ihn gelegt. Lange standen sie so, eng umschlungen, während seine Tränen sich in ihr Haar verloren. Dass die anderen Zauberwesen mit gemischten Blicken auf die Szene reagierten, schien Rafyndor nicht wahrzunehmen. Und Lililja war es gleichgültig. In diesem Moment zählte nur Rafyndor, nur seine Trauer, die sie mit all ihrer Liebe und Geduld aufzufangen suchte.

Pranicara, Nanistra und Meister Lehakonos, die in respektvoller Stille abwarteten, sahen Rafyndor mit Mitgefühl an. Sie verstanden, was dieser Moment für ihn bedeutete. Sie wussten, wie tief seine Zuneigung zu Lililja reichte, und wie schwer es für ihn sein musste, sie als Hüterin des Lichts zu akzeptieren − als eine, deren Weg fortan weit über seine Liebe hinausführte.

Die Höhle leerte sich allmählich, bis nur noch wenige zurückblieben. Schließlich löste Lililja sich sanft aus Rafyndors Umarmung. Doch sie ließ ihn nicht allein, sondern legte wie am Abend zuvor seinen Arm um ihre Schultern, während sie ihren eigenen Arm um seine Hüfte legte. So führten sie ihre Schritte hinaus, durch den kristallbesetzten Gang, begleitet von Nanistra, Meister Lehakonos, Pranicara und dem treuen Skukius. Der schimmernde Glanz der Kristalle wich allmählich der klaren Luft des Freien.

„Wenn ihr keine Einwände habt“, sagte Lililja leise zu den anderen, „werde ich Rafyndor nach Hause bringen. Ich glaube nicht, dass er in der Verfassung ist, den Weg allein zu bewältigen.“

Mit stillen, verständnisvollen Nicken gaben die drei ihre Zustimmung. Und so führte Lililja den noch immer schluchzenden Rafyndor durch den Wald, hin zu seiner Hütte, während das spätere Vormittagslicht in weichen, goldenen Strahlen durch die Blätter fiel.

Pranicara kehrte nachdenklich zu ihrer Hütte im Schatten des Waldes zurück.

Doch noch bevor sie den Pfad zur Tür ganz beschritten hatte, entfuhr ihr ein genervtes Stöhnen. Wie eine Flut erstreckte sich erneut eine endlos scheinende Schlange an Zauberwesen, die ihre Hilfe suchten, bis hin zu ihrer Schwelle.

Mojalian, was hast du mir nur angetan!, murrte sie innerlich, während ihr Blick über die wartende Menge glitt. Es war kaum zu fassen, dass selbst nach all der Zeit kein Ende dieser Besucherströme in Sicht war.

Sie holte tief Atem, sammelte ihre Gedanken und bewegte sich mit einem freundlichen Nicken auf ihre Hütte zu.



Vor Pranicaras Hütte warteten schon wieder Unmengen an Patienten.

Einzelne Wesen, die sie schon mehrfach besucht hatten, grüßte sie flüchtig, ehe sie die Tür öffnete, eintrat und sie hinter sich mit einem schweren Seufzer wieder verschloss. Einen Moment lehnte sie sich mit dem Rücken an die massive Holzpforte und ließ die Eindrücke der Versammlung auf sich wirken.

Lililja − die Hüterin des Lichts. Ein Gedanke, der Pranicara gleichermaßen erstaunte wie nachdenklich stimmte. Die junge Elfe hatte bislang keinerlei Anzeichen gezeigt, dass sie sich dieser Bestimmung bewusst war. Vermutlich war das Wissen darum ebenso neu für sie wie für den Rest von Vanavistaria. Doch wenn sie ehrlich war, Lililja schien nicht gerade glücklich mit dieser Offenbarung.

Während der Rede der alten Nanistra hatte Pranicara Lililja genau beobachtet. Ihre Miene war oft abwesend gewesen, ihre Gedanken offenbar weit entfernt. Immer wieder hatte sie zu Rafyndor und Pranicara hinübergesehen, als suche sie ihre Reaktion. Es lag nahe, dass sie Rafyndor bereits zuvor über ihre Rolle aufgeklärt hatte. Das würde erklären, warum er beim Betreten der Höhle wie versteinert gewirkt hatte.

Pranicara musste schmunzeln, als ihr ein kurzer Moment der Versammlung in den Sinn kam: Wie Lililja sich strecken musste, um dem hochgewachsenen Rafyndor einen zärtlichen Kuss auf die Wange zu drücken. Doch diese einfache, liebevolle Geste hatte ihn sichtlich aus seiner Starre gelöst.

Mit leiser Bewunderung dachte Pranicara darüber nach, wie instinktiv Lililja stets wusste, was Rafyndor brauchte, um wieder ins Gleichgewicht zu finden. Diese Feinfühligkeit war beachtlich, fast schon beneidenswert.



Pranicara erinnerte sich, wie sie einst gesehen hatte, dass Lililja in der Sonne zu verschwinden schien.

Die Nachricht, dass Lililja tatsächlich die angeborene Hüterin des Lichts war, hatte Pranicara überrascht. Doch plötzlich kamen ihr Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend. Sie erinnerte sich an einen frühen Morgen, als sie Lililja im Licht der ersten Strahlen des Sonnenaufgangs stehen gesehen hatte. Für einen flüchtigen Moment hatte sie geglaubt, die Elfe wäre mit dem Licht selbst verschmolzen, gänzlich darin aufgegangen. Später hatte sie dieses Bild als Täuschung abgetan, als Spiel der Sonne, die Lililja umfangen hatte. Doch heute fragte sie sich, ob mehr hinter dieser Vision gesteckt haben könnte. War es möglich, dass sie damals Zeugin einer ersten, unausgesprochenen Manifestation der Hüterin geworden war? Und wenn ja, warum schien Lililja selbst nichts davon zu wissen?

„Das muss ich bei Gelegenheit herausfinden“, beschloss Pranicara insgeheim.

Doch ihre Gedanken verweilten nicht lange bei der Vergangenheit. Sie richteten sich auf die bevorstehenden Herausforderungen, denen Lililja sich nun stellen musste. Pranicara kannte die Erwartungen, die manche Wesen an jene stellten, die sie für außergewöhnlich hielten. Ihre eigene tägliche Erfahrung mit den Besuchern vor ihrer Tür war Beweis genug dafür.

Doch die Ansprüche, die auf Lililja zukommen würden, waren von ganz anderer Natur. Die Wesen würden sie als Retterin sehen, als Beschützerin vor allem Dunklen − seien es reale Gefahren, Albträume oder gar harmlose Streitereien mit Nachbarn. Ob Lililja sich dieser Bürde überhaupt bewusst war?

Rafyndor, so fürchtete Pranicara, würde kaum eine Stütze für sie sein. Seine Reaktion heute hatte dies deutlich gemacht: Er war in sich zusammengebrochen, unfähig, Stärke zu zeigen. Pranicara mochte ihren Cousin, doch sie musste sich eingestehen, dass er ein kleiner Schattenschreck war, der mehr zum Rückzug neigte, als den Sturm zu bestehen.



Pranicara überlegte, ob Lililja schon bewusst war, welche Ansprüche nun an sie gestellt werden würden.

Umso entschlossener fasste Pranicara den Entschluss, Lililja ihre Unterstützung anzubieten. Sie würde ein offenes Ohr für sie haben und sicherstellen, dass die Hüterin des Lichts niemals in einer Schlange warten musste, um Rat zu suchen. Lililja hatte keine Wahl, sie musste ihre Aufgabe annehmen. Und gerade deshalb, so dachte Pranicara, war es ihre Pflicht, der jungen Elfe zu zeigen, dass sie nicht allein war und stets auf sie zählen konnte.



Pranicara nahm sich vor, immer für
Lililja da zu sein, wenn diese sie
benötigte.

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