zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis4f) Tag drei


Tag drei

Bevor Lililja am folgenden Morgen ihren Weg zur Kristallhöhle antrat, vollzog sie − wie es ihrem Brauch bei jedem Tagesanbruch entsprach − das heilige Ritual des Sonnenaufgangs. Mit erhobenen Händen empfing sie das erste Licht des neuen Tages und rief Arokando zu sich.

Obwohl der junge Goblin sich erst durch den schwermütigen Nebel kämpfen musste, war es ihm eine Freude, denn der Lichtsegen würde ihm das Gehen für viele Stunden des Tages erleichtern.

Dann brach Lililja zur Kristallhöhle auf.

Doch schon von Weitem spürte sie eine ungewöhnliche Unruhe in der Luft. Vor dem Höhleneingang drängten sich Zauberwesen in aufgeregtem Durcheinander, erhitzte Stimmen vermischten sich mit den schwermütigen Schwaden des schwarzen Nebels.

Was war hier geschehen?



Der Eingang zur Kistallhöhle war von dem dicken, schwarzen Nebel versperrt.

Rafyndor kämpfte sich durch die wabernden Nebelschwaden zu ihr vor. Seine Miene war düster.

„Die Höhle ist versperrt“, sagte er bedrückt. „Niemand kann mehr hinein.“

Lililja starrte ihn fassungslos an. Wie lange schon mussten die versammelten Wesen hier ausgeharrt haben?

„Hilfst du mir auf einen der Felsen hinauf?“, bat sie schließlich.

Er stützte sie, und als sie auf dem erhobenen Stein stand, breitete sie mit einer sanften Bewegung den Lichtsegen über die versammelte Menge aus. Augenblicklich legte sich die aufgeheizte Stimmung, und die Unruhe wich einer spürbaren Erleichterung. Nachdem Rafyndor ihr wieder hinuntergeholfen hatte, trat sie entschlossen auf den Höhleneingang zu.

Der Waldgeist hatte nicht übertrieben.

Ein Schleier aus tiefschwarzem Nebel hing wie eine lebendige Barriere vor dem Eingang − und anders als der unstete Dunst, der sich über den Boden zog, besaß dieser eine unerbittliche Härte, als wäre er zu Stein geworden.

Lililja hob eine Hand, legte die Fingerspitzen gegen die finstere Wand und versuchte, den Magiefluss in ihrem Inneren zu erspüren.

Kaum hatte sie ihn berührt, riss sie ihre Hand erschrocken zurück.

Ein so tiefes, abgründiges Dunkel pulsierte darin, dass selbst das Licht, das sie in sich trug, dagegen machtlos war.

Ein Frösteln lief ihr über den Rücken.

Was sollten sie nun tun?

Ein Ort musste gefunden werden − ein Platz, groß genug, um die Zaubergemeinschaft aufzunehmen, und zugleich sicher vor dem schwarzen Nebel. Doch Lililja wusste nur einen einzigen Ort, der diesen Anforderungen gerecht wurde. Ob es ihr jedoch gestattet war, ihn zu nutzen, war ungewiss.

Zögernd, aber entschlossen, sprach sie den Namen aus: „Maheravo Sarala!“

Sie hoffte inständig, dass die Sprecherin der Lichtgeister bereits von der Säuberungsaktion zurückgekehrt war. Zu ihrer Erleichterung dauerte es nicht lange, bis Sarala heranschwirrte, ihr feines Licht flackernd im Nebel.

„Guten Morgen, Sarala“, begrüßte Lililja sie freundlich. „Wie weit seid Ihr und Euer Geschwader mit der Säuberung der verschmutzten Gebiete vorangeschritten?“

„Viel Dreck“, antwortete Sarala mit ernster Miene, „morgen ist alles sauber.“

Lililja lächelte, doch es war ein müdes Lächeln. Dann kam sie auf den eigentlichen Grund ihres Rufes zu sprechen.

„Sarala …“, begann sie und seufzte leise. „Wie Ihr seht, ist es hier sehr schmutzig. Die Tür ist derart verunreinigt, dass niemand sie passieren kann. Doch die Zaubergemeinschaft benötigt einen reinen, unbefleckten Ort, um ihre Beratungen fortzuführen. Hättet Ihr eine Idee, wo wir uns versammeln könnten?“



Lililja fragte Sarala, ob diese einen „sauberen“ Platz kenne, an dem sich die Zaubergemeinschaft treffen könnte.

Sie wollte Sarala nicht bedrängen. Vielmehr ließ sie ihr bewusst eine Möglichkeit zur indirekten Ablehnung − ein höflicher Weg, um zu zeigen, dass die Morgenglanzlichtung nicht zur Verfügung stand, falls Sarala es nicht wünschte.

Doch die Lichtgeist-Sprecherin zögerte nicht einmal.

„Die Morgenglanzlichtung ist sauber“, sagte sie schlicht.

Lililja nahm dies als Einladung.

Mit neuer Entschlossenheit wandte sie sich den Versammelten zu. „Sagt es weiter“, sprach sie. „Wir werden uns ab sofort auf der Morgenglanzlichtung treffen.“

Dann setzte sie sich gemeinsam mit Rafyndor in Bewegung, während hinter ihnen die Kunde von ihrem neuen Treffpunkt durch die Reihen raunte.

Demojon hatte Pranicara inzwischen entdeckt und näherte sich ihr mit einem strahlenden Lächeln. Pranicaras Herz machte unwillkürlich einen freudigen Sprung, als ihr Blick erneut in diese leuchtend blauen Augen fiel.

„Guten Morgen, Pranicara“, begrüßte er sie mit warmer Stimme. „Möchtest du mit mir zur Morgenglanzlichtung gehen? Ich wollte dir erzählen, welche Möglichkeit es gibt, wie du und dein Cousin in die Jada-Eiche gelangt sein könntet.“

„Ja, gerne“, erwiderte sie, ein Lächeln auf den Lippen. Nur zu gerne, dachte sie insgeheim.

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung.



Demojon fragte, ob sich Pranicara an einen Knall erinnern könne, als sie damals in die Jada-Eiche gesperrt worden war.

„Erinnerst du dich vielleicht daran“, begann Demojon, „ob ein lauter Knall ertönte, als ihr in die Jada-Eiche gesperrt wurdet?“

Pranicara blieb kurz in Gedanken versunken. Es war schon so lange her…

„Ja“, sagte sie schließlich. „Ich erinnere mich. Damals hielt ich das Geräusch für einen Bestandteil des Zaubers, der uns in den Baum verbannte. War dem nicht so?“

Demojon schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht. Ich denke, es hing mit dem Amulett zusammen, das der Goblin benutzt hat.“

Pranicara sah ihn erstaunt an. Ja, jetzt, da er es erwähnte − der Goblin hatte tatsächlich etwas in der Hand gehalten.

„Du hast recht!“, rief sie aufgeregt. „Das war mir völlig entfallen!“

„Du hast es gesehen?“ Nun war es Demojon, der mit plötzlicher Begeisterung innehielt.

Pranicara runzelte verwundert die Stirn. Erst hatte er ihr mit fester Überzeugung gesagt, dass der Goblin ein Amulett benutzt hatte, und nun wirkte er völlig aus dem Häuschen, als sie es bestätigte?

Er bemerkte ihre Verwirrung − und lachte herzhaft.



Pranicara erinnerte sich, dass Gamdhod ein Amulett in der Hand gehalten hatte, als er sie und Rafyndor in die Jada-Eiche sperrte.

„Verzeih“, sagte er, noch immer schmunzelnd. „Das Problem mit diesen Amuletten ist, dass sie so selten sind, dass kaum ein Magier sie jemals zu Gesicht bekommen hat. Und noch weniger haben in jenem Moment erkannt, was sie eigentlich in den Händen hielten. Vielleicht sollte ich dir erst erklären, was es mit diesen Amuletten auf sich hat − dann verstehst du meine Reaktion besser.“

Pranicara wurde neugierig. „Das klingt ja höchst geheimnisvoll“, sagte sie und hob interessiert eine Augenbraue.



Demojon erzählte von den explodierenden Evakara-Amuletten.

„Das ist es auch“, bestätigte der junge Vykati. „Wenn meine Vermutung stimmt, hatte der Goblin damals ein Evakara-Amulett gefunden. Es gibt allerdings keine Gewissheit darüber, ob es nur ein einziges dieser Amulette gibt oder mehrere − doch nach allem, was wir wissen, besitzt es eine außergewöhnliche Eigenschaft: Es verleiht seinem Finder die Macht, genau eine magisch gewaltige Tat zu vollbringen. In dem Moment, in dem diese Kraft freigesetzt wird, zerbirst das Amulett zu feinem Staub. Der Wind trägt diesen Staub fort − zu einem unbekannten Ort in weiter Ferne, wo er sich erneut zu einem Amulett formt und darauf wartet, von einem neuen Besitzer gefunden zu werden.“

Er hielt kurz inne, ließ seine Worte wirken.

„Aber weil nur wenige überhaupt um die Existenz dieses Artefakts wissen, vermute ich, dass die meisten, die es einst benutzten, glaubten, sie hätten einen Fehler gemacht – schließlich zerbrach es einfach in ihren Händen. Und wer stellt sich schon vor seine Freunde und verkündet:“, Demojon verstellte theatralisch die Stimme, „‚Hey, ich habe eine ungeheuer mächtige magische Tat vollbracht − aber dummerweise ist mir das Amulett dabei explodiert!‘“

Pranicara lachte schallend, und Demojon stimmte in ihr Lachen ein.

Dann wurde seine Stimme wieder ernst. „Verstehst du jetzt, warum ich so begeistert war, als du sagtest, du hättest es gesehen?“

Ja, dachte sie, das ergab Sinn. Sie ließ ihre Gedanken zurückwandern, versuchte, sich das Amulett in Erinnerung zu rufen.

„Es war aus Stein“, sagte sie schließlich, langsam und überlegend. „Kreisrund, so geformt, dass es gut in der Hand lag. Und ich glaube, darauf waren… Runen eingeritzt. Oder zumindest so etwas in der Art.“

Demojons Augen begannen vor Aufregung zu leuchten.

„Ja! Genau so wird es in den wenigen Aufzeichnungen beschrieben! Oh, Pranicara!“, rief er begeistert und zog sie spontan in eine feste Umarmung. „Du bist die erste, die mir die Existenz eines solchen Amuletts bestätigt!“



Pranicara versuchte, das Amulett genau zu beschreiben.

Dann ließ er sie hastig wieder los und sah sie etwas verlegen an. „Verzeih… ich bin einfach so überwältigt, dass ich nicht wusste, wohin mit meinen Emotionen.“

Pranicara grinste amüsiert. „Dann bist du bei mir ja genau richtig“, schmunzelte sie. „Du weißt doch − ich bin Seelenheilerin.“

Erleichterung breitete sich auf Demojons Gesicht aus.

Pranicara musterte ihn einen Moment lang eindringlich, als wolle sie sich jedes Detail einprägen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte mit leiser Stimme: „Demojon, darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“

Er schmunzelte. „Nachdem wir uns bereits umarmt haben, darfst du mich alles fragen.“

Sie zögerte kurz, bevor sie vorsichtig erwiderte: „Ich hielt dich aufgrund deines Erscheinungsbildes für einen Vykati… doch nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich damit richtig liege.“

Das Lächeln auf Demojons Lippen erlosch augenblicklich. Da war sie wieder, diese Frage − dieser unausgesprochene Zweifel, der ihn sein Leben lang begleitet hatte. So oft hatte er es gehört: Er sei kein richtiger Vykati. Er solle sich mehr zusammenreißen, seine Spontaneität zügeln, seine Gefühle beherrschen, kühler und vernunftgeleiteter handeln. Ein Vykati verlor nicht die Kontrolle über sich!

Pranicara spürte augenblicklich, dass sie eine empfindliche Stelle berührt hatte. Ein unsichtbarer Schleier legte sich zwischen ihnen, eine Distanz, die zuvor nicht da gewesen war.



Als Pranicara spürte, dass sie bei Demojon einen wunden Punkt berührt hatte, nahm sie seine Hand in die ihre, um sich bei ihm dafür zu entschuldigen.

Ohne nachzudenken, griff sie sanft nach seiner Hand und drückte sie leicht. „Demojon, es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Das war nicht meine Absicht.“ Ihre Stimme war warm und voller Mitgefühl. „Du bist nur… anders als alle Vykati, die ich bisher kennengelernt habe. Du bist fröhlich, aufgeschlossen − es ist eine Freude, mit dir zu sprechen. Das kannte ich so nicht. Aber es gefällt mir.“

Zögernd hob Demojon den Blick. Ihre Worte hallten in ihm nach, und für einen Moment schien er zwischen Zweifel und Hoffnung zu schwanken. Dann fiel sein Blick auf ihre Hand, die noch immer die seine umschloss. Vorsichtig erwiderte er die Berührung, und ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht.

Leise, fast wie ein Geständnis, murmelte er: „Ich bin Vykati… doch meine Familie hält mich für nicht besonders gelungen.“

Pranicara erstarrte innerlich. Nie hätte sie erwartet, mit einer so tief verwurzelten Unsicherheit konfrontiert zu werden. Mit fester Stimme und einem sanften, aufrichtigen Lächeln erwiderte sie: „Nun, in meinen Augen bist du der bestgeratene Vykati, den ich je getroffen habe.“

Sein Lächeln wurde heller, wärmer − es erreichte seine leuchtend blauen Augen, die nun wieder strahlten. Er verstärkte den Griff um ihre Hand, hielt sie nun fester.

Inzwischen hatte die Zaubergemeinschaft die Morgenglanzlichtung erreicht. Es bestand keine Notwendigkeit, dass sich Pranicara und Demojon voneinander lösten, also blieben sie, Hand in Hand, an Ort und Stelle.

Während Lililja sich anschickte, die Versammlung zu eröffnen, kam Rafyndor zu ihnen hinüber. Sein Blick fiel auf die ineinander verschlungenen Hände der beiden, und er hob leicht verwundert eine Braue.

„Rafyndor, das ist Demojon“, stellte Pranicara die beiden einander vor. „Er hat das Rätsel gelöst, wie Gamdhod es geschafft hat, uns in die Jada-Eiche zu bannen. Aber das erzählen wir dir später − nach der Versammlung.“

Während Lililja zu sprechen begann, beugte sich Rafyndor leicht zu ihr und fragte leise: „Wie lange kennst du Demojon schon?“

„Seit gestern“, flüsterte sie zurück, ein glückliches Lächeln auf den Lippen.

Rafyndors Verwirrung wuchs. „Und wie oft habt ihr euch bereits getroffen?“



Rafyndor nahm die vertraute Geste zwischen Pranicara und Demojon verwundert zur Kenntnis.

„Heute zum zweiten Mal.“ Ihre Stimme klang ruhig, doch das Lächeln, das dabei ihre Lippen umspielte, verriet mehr als Worte es je vermocht hätten.

Nach der Versammlung trat Lililja zu ihnen, auch ihr Blick ruhte für einen Moment auf den ineinander verschlungenen Händen. Überraschung schimmerte in ihren Augen, doch sie äußerte keinen Kommentar.



Demojon konnte seine Begeisterung über die Bestätigung der Existenz eines Evakara-Amuletts nur schlecht kontrollieren.

Während Demojon erneut seine Theorie darlegte, dass Gamdhod sich eines Evakara-Amuletts bedient haben musste, schilderte er voller Begeisterung den Moment, in dem Pranicara ihm zum ersten Mal die Existenz eines solchen Artefakts bestätigt hatte. In einem Anflug spontaner Zuneigung löste er seine Hand aus der ihren, legte stattdessen den Arm um ihre Schultern und zog sie sanft an sich. Dann hauchte er ihr einen flüchtigen Kuss ins Haar.

Kaum hatte er es getan, suchte sein Blick verunsichert den ihren, als erwarte er einen Einwand. Doch Pranicara schmunzelte nur amüsiert.

Diese Reaktion nahm ihm die letzte Zurückhaltung, und so ließ er seinen Arm ungezwungen um ihre Schultern liegen, während sie sich zu viert über die Fortschritte der aktuellen Maßnahmen sowie über den möglichen Aufenthaltsort des Dunklen Magiers austauschten.

Pranicara genoss Demojons Nähe und schmiegte sich unmerklich an ihn. Schließlich ließ sie ihre Hand sanft an seiner Seite entlanggleiten und legte ihren Arm um seine Hüfte. Demojon erwiderte die Geste mit einem leuchtenden Lächeln, das seine Augen zum Strahlen brachte.

Doch schließlich seufzte die Waldgeistfrau leise und sagte mit spürbarem Bedauern in der Stimme: „Ich muss heim − es gibt noch unendlich viel zu tun.“

Demojon zögerte keine Sekunde. „Darf ich dich begleiten?“

Ein glückliches Strahlen breitete sich auf Panicaras Gesicht aus. „Ja, gern.“

Sie verabschiedeten sich von Lililja und Rafyndor und schlenderten schließlich, eng umschlungen, in Richtung von Pranicaras Hütte davon.

Rafyndor verfolgte die beiden mit unverhohlenem Staunen. Schließlich schüttelte er den Kopf und murmelte: „Das ging ja schnell. Gestern erst kennengelernt und heute schon ein Paar!“

Sein Blick wanderte zu Lililja, die sich sehr wohl bewusst war, dass er eine Reaktion von ihr erwartete − doch sie ließ sich nichts anmerken und tat, als hätte sie es gar nicht bemerkt.



Rafyndor und Lililja staunten, wie schnell
sich Demojon und Pranicara gefunden hatten.

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