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Rafyndor hatte sich mittlerweile von dem ersten Schock erholt.
Wie alle anderen hatte auch er die Morgenglanzlichtung verlassen, um zu seiner Arbeit zurückzukehren − Skukius im Korb an seiner Seite.
Doch während die anderen Zauberwesen unter der drückenden Schwere des dunklen Nebels litten, der über das Land kroch, schritt er ungehindert hindurch. Der Lichtsegen, den ihm die Hüterin des Lichts am Morgen gespendet hatte, schützte ihn.
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Rafyndor kehrte mit Skukius im Korb zu seiner Hütte zurück.
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Während er auf schmalen Waldpfaden seiner Hütte entgegenschritt, hallten Lililjas Abschiedsworte in seinen Gedanken wider, als hätten sie sich mit unauslöschlicher Glut in seine Seele gebrannt: „Es tut mir so unendlich leid. Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen.“
Verzeihen? Ach, meine geliebte Lililja, dachte er unablässig, es gibt nichts zu verzeihen!
Pranicara hatte ihm offenbart, dass Lililja längst um seine Gefühle wusste. All die Monate der Zurückhaltung, der verborgenen Blicke, des sorgsamen Schweigens − sie hatte es stets geahnt. Und nun? Nun musste er sich nicht mehr verbergen. Er konnte ihr endlich zeigen, was in ihm brannte, konnte sie offen und ohne Scheu ansehen, konnte sie umarmen, ohne dass ihn die Angst zerfraß, sie könnte sein Geheimnis erraten.
Aber warum? Warum hatte sie ihr Herz ausgerechnet Mojalian geschenkt − und nicht ihm, Rafyndor?
Ein Stachel, kalt und schneidend, bohrte sich in seine Brust, als der Name seines einstigen Freundes in ihm aufstieg. Mojalian! Der Verräter! Der Lügner!
Einst hatte dieser geschworen, sich nicht zwischen ihn und Lililja zu drängen. Und doch hatte er es getan. Hatte sich ihr in schmeichelnden Worten genähert, ihr Herz mit listigem Charme für sich gewonnen, bis sie ihm schließlich verfallen war.
Rafyndor ballte die Fäuste. Dies war nicht Lililjas Schuld − sie war rein, gutherzig, voller Licht. Nein, die Schuld lastete allein auf den Schultern dieses Geisterwesens, dieses niederträchtigen Seelen-Drastas! In diesem Moment hasste Rafyndor Mojalian mit einer Tiefe, wie er noch nie zuvor einen anderen gehasst hatte.
Doch dann stieg eine neue Frage in ihm auf, eine, die ihn ins Wanken brachte.
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Rafyndor kam in den Sinn, dass Lililja stets eng umschlungen mit ihm über die Wege der Hauptstadt gelaufen war.
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Lililja hatte ihn nie zurückgewiesen. Nie hatte sie ihn auf Abstand gehalten. Im Gegenteil − sie hatte stets seine Nähe gesucht, hatte mit ihm gelacht, war mit ihm durch die Straßen der Hauptstadt geschlendert, eng an ihn geschmiegt, als wäre es das Natürlichste der Welt. Warum? Warum hatte sie dies zugelassen, wenn ihr Herz doch längst einem anderen gehörte? Wenn sie um seine Gefühle wusste? Hatte sie mit ihm gespielt?
Nein!
Der Gedanke traf ihn, doch er stieß ihn sogleich von sich. Niemals! Lililja war nicht dazu fähig, mit seinen Gefühlen zu spielen.
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Er erinnerte sich an ihre Worte, damals, in jener Nacht, als Pranicara ihn aus seiner selbst gewählten Isolation zurückgeholt hatte. „Seit ich dich kenne, warst du für mich wie ein kleiner Bruder, um den ich mich kümmern muss. Ich liebe dich, Rafyndor, und du sollst immer wissen, dass du zu mir kommen kannst − was auch immer dich bedrückt.“
Ja, dachte er voller Wehmut. Sie liebte ihn. Doch nicht auf die Weise, die er sich so verzweifelt erhofft hatte.
Der Kuss in der Kristallhöhle, nachdem er erstarrt war. Das stürmische Um-den-Hals-Fallen nach seiner Rückkehr. Die Zärtlichkeit in ihrer Stimme, wann immer sie seinen Namen sprach. All das war Liebe − aber nicht jene Liebe, nach der er sich verzehrte. Es war die Liebe einer Schwester für ihren Bruder.
Ein Seufzen entrang sich seiner Brust, schwer wie der Himmel vor einem Sturm.
Plötzlich blieb er stehen.
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Ein kalter Schreck fuhr ihm in die Glieder.
Lililja! Er hatte sie ziehen lassen! Allein!
Der Schattensmaragd lag weit entfernt, und sie hatte eine lange Reise vor sich − erst dorthin, dann weiter zum Portal. Ganz ohne Schutz. Ohne Begleitung.
Wie lange war sie bereits unterwegs? Drei Stunden? Vielleicht vier?
Wenn er sich beeilte, konnte er sie noch einholen. Skukius würde ihn leiten − er fand stets jedes Wesen, das er suchte.
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Plötzlich wurde Rafyndor bewusst, dass sich Lililja ganz allein auf der Suche nach dem Schattensmaragd befand.
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Die Arbeit im Wald konnte warten. Was bedeutete sie schon, verglichen mit Lililjas Sicherheit?
Seine Schritte beschleunigten sich. Dann lief er.
An seiner Hütte angekommen, setzte er Skukius sanft auf der Bank vor der Tür ab, griff nach dem Tonikum, das der Rabe benötigte, sowie nach einigen wenigen Dingen, die er auf der Reise brauchen könnte. Schließlich hob er den Korvum-Raben wieder auf den Arm, sah ihm fest in die schwarzen Augen und sagte mit fester Stimme: „Bring mich zu Lililja.“
Skukius hatte während der gesamten Zeit geschwiegen. Er hatte gespürt, dass Rafyndor in seine eigenen Gedanken versunken war, und wollte ihn nicht stören. Doch nun musterte er ihn mit einem skeptischen Blick, seine Stimme trug einen misstrauischen Unterton, als er schließlich fragte: „Warum? Meister Lehakonos sagte, sie sei auf einer geheimen Mission.“
„Ja“, entgegnete Rafyndor grimmig, „sie sucht den fehlenden Smaragd für das Portal. Und dann“, seine Stimme verzerrte sich zu einem unterdrückten Knurren, „wird sie Mojalian zurückholen.“
Skukius zuckte zusammen. Der blanke Hass in Rafyndors Tonfall überraschte ihn. Hatte der Waldhüter nicht stets wohlwollend über das Geisterwesen gesprochen? Er hatte doch immer betont, dass Mojalian ein treuer Freund gewesen sei. Was hatte sich verändert?
Dann erst drang die Tragweite von Rafyndors Worten zu ihm durch. Erschrocken riss er die Augen auf.
„Wir sollen das Portal doch nicht erwähnen!“, wisperte er, als fürchte er, bereits durch das bloße Aussprechen der Worte Unheil heraufzubeschwören. „Sonst kommen die Unda Dingsda!“
„Die sind längst unterwegs“, erwiderte Rafyndor finster. „Genau deshalb sucht Lililja den Smaragd.“
„Weiß sie denn, wo er sich befindet?“, fragte Skukius verwundert.
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Rafyndor sprach im feindseligen Ton über Mojalian.
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„Ja“, knurrte Rafyndor, und seine Stimme färbte sich erneut mit unverhohlener Feindseligkeit. „Mojalian hat es ihr verraten.“
Skukius runzelte die Stirn. „Seit einem Jahr weiß sie es und hat nichts unternommen, um ihn zu holen?“ Seine Stimme klang nun ebenso verwirrt wie ungläubig.
Rafyndor gab keine Antwort. Seine Gedanken waren wie ein dunkler Strudel, kreisten um seinen brennenden Hass auf Mojalian und um die tiefe Besorgnis um Lililja.
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Nach einem Moment des Schweigens trat seine Ungeduld offen zutage. „Also? Führst du mich jetzt zu ihr?“
Skukius schloss die Augen und lauschte in sich hinein, doch er konnte Lililja nicht erspüren. Verblüfft blinzelte er.
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„Ich kann sie nicht finden“, murmelte er, sichtlich irritiert. Noch einmal versuchte er es, ließ seinen Instinkt umherstreifen, doch auch diesmal blieb Lililjas Präsenz ihm verborgen. Ein leiser Zweifel kroch in ihm hoch: Waren die dunklen Flüche, die er im Kampf erlitten hatte, so tief in seine Seele gedrungen, dass sie seine Fähigkeit beeinträchtigten?
Um sicherzugehen, suchte er nach Meister Lehakonos − und fand ihn in seinem Studierzimmer. Auch Pranicara konnte er spüren, die sich in ihre Hütte zurückgezogen hatte. Nein, seine Gabe funktionierte einwandfrei. Doch als er ein drittes Mal nach Lililja suchte, war es, als sei sie aus seinem Fokus verschwunden.
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Skukius konnte Lililja nicht finden.
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„Ich weiß nicht, woran es liegt“, sagte Skukius erschüttert. „Aber ich kann sie nicht finden. Sie ist... verschwunden.“ Seine Stimme bebte leicht, als er Rafyndor bestürzt ansah.
Dem Waldhüter stockte der Atem. Eine dunkle Vorahnung legte sich wie ein kalter Schatten über ihn. Warum konnte Skukius Lililja nicht aufspüren? Was hielt ihn davon ab?
Panik drohte ihn zu übermannen. Lililja war ganz auf sich gestellt. Wer wusste, welche Gefahren auf dem Weg zum Portal lauerten? Und was, wenn selbst die Suche nach dem Smaragd bereits von unvorhersehbaren Bedrohungen überschattet wurde?
Einen Herzschlag lang stand er reglos da, dann verdrängte seine Entschlossenheit jedes Zögern.
Meister Lehakonos aufzusuchen, würde nichts bringen. Er würde sich in Schweigen hüllen − schließlich hatte er selbst betont, dass es sich um eine geheime Mission handelte. Also blieb nur eines: Er würde am Portal auf Lililja warten.
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Rafyndor fasste den Entschluss, am Portal auf Lililja zu warten und ihr endlich seine Liebe zu gestehen.
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Er musste darauf vertrauen, dass ihre Lichtmagie sie schützte. Dass sie stark genug war, um den Smaragd zu bergen.
Aber er würde da sein, wenn sie das Portal erreichte. Er würde ihr zeigen, dass er sie nie im Stich lassen würde. Und dann, bevor dieses verfluchte Geisterwesen erneut nach Vanavistaria zurückkehrte, würde er endlich aussprechen, was so lange unausgesprochen geblieben war.
Er würde ihr seine Liebe gestehen.
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„Gut, Skukius“, sagte er schließlich, seine Stimme vor Entschlossenheit hart wie Stahl. „Dann bring mich zum Portal. Ich werde dort auf sie warten.“
Der Korvum-Rabe wies ihm stumm die Richtung. Doch nach wenigen Schritten wagte er eine vorsichtige Frage: „Warum bist du so wütend auf Mojalian? Ihr habt euch doch im Guten verabschiedet.“
Rafyndor stieß ein bitteres Schnauben aus. „Da wusste ich auch noch nicht, dass er sich meine Lililja schnappen würde.“
Seine Lililja? Skukius blinzelte irritiert. Hatte er etwas verpasst? Und was meinte Rafyndor mit „schnappen würde“?
„Das verstehe ich nicht“, sagte er unsicher.
Doch Rafyndor schwieg. Er hatte keinerlei Interesse daran, seine Gefühle zu erklären.
Skukius verstand den unausgesprochenen Befehl und hielt den Schnabel.
Schweigend schritten sie durch den dämmernden Wald.
Allmählich ließ die Wirkung des Lichtsegens nach. Rafyndors Schritte wurden schwer, als lastete mit jedem Schritt mehr Gewicht auf ihm, nicht nur in seinen Beinen, sondern auch in seiner Seele. Seine ohnehin trübe Laune verdüsterte sich weiter, seine Gedanken zogen sich wie ein Sturmhimmel über seinem Geist zusammen.
Skukius bemerkte die Veränderung sofort. Eine Idee keimte in ihm auf − ob sie tatsächlich helfen würde, wusste er nicht, doch einen Versuch war sie wert.
Ohne ein Wort flatterte er auf Rafyndors Schulter und ließ sich dort nieder. Der Waldhüter warf ihm einen gereizten Blick zu, sagte jedoch nichts. Seine Probleme wogen schwer genug, als dass er sich auch noch mit den akrobatischen Eigenheiten eines Korvum-Raben befassen wollte.
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Skukius ließ sich nicht beirren. Er konzentrierte sich, versetzte sich in eine seiner Kopffedern − er wurde zum Schaft, wurde zur Fahne, wurde zum Widerhaken. Er war seine Feder. Dann verlagerte er seinen Fokus auf Rafyndors Schritte. Und erneut fiel es ihm leichter, als er gedacht hatte.
Rafyndor, so sehr in seinen düsteren Gedanken gefangen, bemerkte den Wandel erst spät. Doch plötzlich stellte er fest, dass das Gehen ihm wieder leichter fiel. Irritiert senkte er den Blick − der Nebel, der zuvor widerwillig seinen Weg freigegeben hatte, wich ihm nun fast ehrfürchtig zur Seite. Dann fiel sein Blick auf Skukius, dessen Federkrone in sanftem Licht erstrahlte. Ein unerwarteter Anflug von Erleichterung huschte über sein Gesicht.
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Skukius setzte sich bei Rafyndor auf die Schulter und erweckte die Magie in sich, sodass Rafyndor das Laufen wieder leichter fiel.
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„Hey, danke, Kumpel!“, sagte er und spürte, wie sich seine Stimmung ein wenig hob. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Du hattest mich vorhin etwas gefragt… Weißt du noch, was es war?“
„Ja“, antwortete Skukius prompt. „Ich wollte wissen, warum du so wütend auf Mojalian bist.“
Rafyndor seufzte − tief, schwer, als müsse er einen uralten Groll aus seiner Brust atmen. Dann begann er zu erzählen.
Er sprach von seiner Flucht in die Höhle, ausgelöst durch Gefühle, die ihn zu übermannen drohten und von Pranicaras beherztem Eingreifen, das ihn ins Licht zurückgeführt hatte. Er erzählte, wie er all die Monate unfähig gewesen war, Lililja seine wahren Gefühle zu zeigen, wie er unzählige Gespräche mit Mojalian über sie geführt hatte. Mojalian, der ihm einst geschworen hatte, sich nicht zwischen sie zu drängen. Mojalian, der sein Wort gebrochen hatte. Mojalian, der seit Monaten schon einen vertrauten Kontakt zu Lililja pflegte.
Und nun − nun waren die Elfe und das Geisterwesen ein Paar.
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Rafyndor erzählte, dass er Lililja ohne richtigen Abschied auf eine schwere Mission geschickt hatte.
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„Als sie mir sagte, dass sie ihn liebt, war ich wie erstarrt. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, und sie hielt mein Schweigen für Wut. Jetzt ist sie auf dieser gefährlichen Mission − allein, mit dem Gedanken, dass ich ihr grolle.“
Rafyndor ballte die Fäuste, sein Blick verhärtete sich. „Deshalb werde ich am Portal auf sie warten. Ich will ihr sagen, dass ich ihr nicht böse bin. Und dass ich sie liebe.“
Er schwieg. Ein Windhauch raschelte durch die Baumkronen, ließ die Schatten tanzen.
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Skukius nickte bedächtig. „Ah. Damit klären sich auch meine anderen Fragen.“
„Welche?“, fragte Rafyndor müde.
„Zum Beispiel, woher du weißt, dass die Unda Dingsda…“
„Unda Palata“, korrigierte Rafyndor automatisch.
„Genau“, fuhr Skukius fort. „Woher du weißt, dass sie bereits unterwegs sind. Und warum Lililja plötzlich weiß, wo der Smaragd zu finden ist.“
Er spürte, dass Rafyndor nicht weiter darüber sprechen wollte, also ließ er es dabei bewenden. Stattdessen verstärkte er das Leuchten seiner Federkrone, um Rafyndors Weg weiter zu erleichtern.
„Merkwürdig“, murmelte Rafyndor und musterte den sanften Schimmer auf Skukius′ Kopf. „Es scheint dir inzwischen viel leichter zu fallen, dein Licht zu rufen.“
„Das ist mir auch schon aufgefallen“, gab Skukius zu. „Offenbar funktioniere ich ähnlich wie die Blauschnäuzchen. Nur brauchen diese Tiere Pilogi-Pflanzen, um dunkle Flüche abzuwehren − während es bei mir genau andersherum ist. Die dunklen Flüche haben meine innere Lichtmagie erst richtig entfesselt.“
Er lachte trocken. „Hadadust hat mir also unwissentlich einen Gefallen getan, als er versuchte, mich zu töten und mich mit seinen Flüchen überzog.“
Doch selbst mit dieser Erkenntnis − selbst mit der unfreiwilligen Stärkung, die sein Feind ihm beschert hatte − verspürte Skukius keine Dankbarkeit.
Und vergeben würde er Hadadust schon gar nicht.
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Skukius vermutete, dass die dunklen Flüche, die auf ihn abgeschossen worden waren, seine helle Magie stärker gemacht hatten.
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