zurück StartseiteDer Planet AgibaraniaWesen und OrteTitelseiteInhaltsverzeichnis4v) Ravgor


Ravgor

Hadadust war Hals über Kopf in seine Höhle zurückgekehrt, nur um dort kraftlos auf den Boden zu sinken. Sein Körper bebte vor Erschöpfung und Panik. Es war aus! Gegen dieses gigantische Flügelwesen war er machtlos. Doch woher war es gekommen? Wie konnte er es übersehen haben?

Zunächst hatte er es für eine Täuschung gehalten − eine einfache Illusion, wie sie mit dem richtigen Zauber leicht zu erschaffen wäre. Die Vorstellung, dass es sich lediglich um eine optische Vergrößerung handelte, war ihm plausibel erschienen. Doch als das Wesen sämtliche Flüche seiner tausend Schattenkrieger mühelos absorbierte und sie mit vernichtender Präzision zurückschleuderte, musste er sich eingestehen, dass er sich gewaltig geirrt hatte.

Was sollte er nun tun? Er hatte versagt. Ravgor würde ihn bestrafen − nicht mit einem schnellen Tod, sondern mit Folter, so grausam, dass er es sich nicht auszumalen wagte. Verstümmelung, sengende Flammen, Qualen jenseits menschlicher Vorstellungskraft − all das erwartete ihn. Flucht war keine Option. Das Brandmal, das Ravgor ihm bei seiner Unterwerfung auferlegt hatte, würde ihm überallhin folgen, ihn stets verraten.

Sein Clan erzählte seit jeher die Geschichte von Vasodust, einem seiner Vorfahren, der einst ebenfalls versucht hatte, Vanavistaria zu unterwerfen. Auch er hatte sich einem Unda Palata verschrieben. Doch als Vasodust erkannte, dass seine Niederlage unausweichlich war, hatte er in einem verzweifelten Akt der Verblendung den Hüter des Lichts direkt angegriffen − und war von ihm niedergestreckt worden. Man sagte, sein Körper sei vor den Augen seiner Verbündeten in grünen Flammen aufgegangen, während seine Schmerzensschreie noch tagelang über das Land hallten.



Hadadust dachte an seinen Vorfahren Vasodust.

Hadadust erschauderte. Auch das war kein Ausweg. Kein Entkommen, keine Hoffnung. Die Falle, in die er sich selbst manövriert hatte, schloss sich unaufhaltsam um ihn.

Schließlich fiel seine Entscheidung. Mit einem resignierten Seufzen richtete er sich auf. Er würde Ravgor heraufbeschwören. Es war besser, das Unausweichliche jetzt zu ertragen, als in ständiger Angst vor dem Moment zu leben, in dem der Unda Palata ihn unvorbereitet heimsuchen würde.



Hadadust sprach die Beschwörungsformel, und ein Riss zwischen den Dimensionen entstand.

Seine Hände bebten, als er mit stockender Stimme die Worte sprach, die das Schicksal besiegeln würden:

„In den Schatten der Vergessenheit, dort, wo Finsternis den Atem des Universums umfängt und das Licht erstickt, rufe ich dich, Unda Palata herbei. Aus den Tiefen des Abgrunds, wo Dunkelheit regiert und die Seelen verloren sind, erscheine vor mir, Macht der Nacht. Komm, oh Wesen der düsteren Mächte, erhebe dich aus deinem Versteck und gehorche meinem Ruf. Lass die Finsternis sich manifestieren und den Pfad der Zerstörung betreten. Unda Palata, ich rufe dich, entfessle deine schreckliche Macht und erfülle diese Welt mit dem Schatten deiner Anwesenheit.“

Die Erde erbebte. Ein dröhnendes Grollen zerriss die Stille, gefolgt von einem infernalischen Kreischen, das durch Mark und Bein schnitt. Der Raum selbst schien sich zu verziehen, als ein Spalt zwischen den Dimensionen aufbrach. Und aus dieser klaffenden Wunde trat es hervor:

Ein Ungetüm von schattenhafter Schwärze, ebenso gewaltig wie das geflügelte Wesen, das Hadadust in die Flucht geschlagen hatte. Doch während jenes in gleißender Macht erstrahlte, war dieses hier von lodernder Finsternis durchdrungen. Feuer aus den tiefsten Höllen brannte in seinen Augenhöhlen, sein Maul glühte wie geschmolzenes Erz. Breite, bedrohliche Hörner ragten von seiner Stirn in zwei Richtungen, sowohl auf- als auch abwärts gekrümmt. Ein Panzer aus scharfkantiger Schwärze bedeckte seinen Körper, und es bewegte sich auf massiven Hufen, während sein peitschenartiger Schwanz zischend durch die Luft schnitt.

Als es sprach, war es, als würde der Abgrund selbst seine Stimme erheben. Tief hallend, von einer Schwere, die die Luft zu zerreißen drohte, rollte die Frage durch die Höhle:„Warum rufst du mich? Vanavistaria liegt noch nicht in deinen Händen.“

Hadadusts Knie gaben nach. Zittrig sank er zu Boden, wagte nicht, den Blick zu heben. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen, ein Wimmern im Schatten des Ungeheuers: „Ihr habt recht, oh Fürst der Finsternis. Doch ein gigantisches Flügelwesen ist den Zauberwesen zu Hilfe geeilt. Gegen seine Macht bin ich machtlos…“



Ravgor wollte wissen, warum er gerufen worden war, obwohl Hadadust Vanavistarie noch nicht in den Händen hatte.

Ein leises, scharfes Einatmen erklang aus der Dunkelheit. Ravgor hob den Kopf, sog die Luft ein, schmeckte die unsichtbaren Spuren von Magie, die in der Atmosphäre hingen. Dann verzog sich sein Maul zu einem diabolischen Grinsen.

Er spuckte den Namen aus wie Gift.

„Mojalian!“

Über der Morgenglanzlichtung im strahlenden Zentrum der Hellen Magie, hatte sich eine gespannte Stille gelegt − eine Nervosität, die in den Herzen der Zauberwesen wogte, ohne dass ein einziges Wort sie durchbrach.

Mojalian hatte ihnen offenbart, was ihnen bevorstand: Der Unda Palata war nicht nur ein gigantisches Wesen, sondern eines aus Fleisch und Knochen, durchdrungen von düsterer, unheilvoller Magie. Direkt gegen ihn würden sie wenig ausrichten können, doch sie besaßen andere Mittel. Schutzzauber sollten errichtet werden, nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihn, Mojalian, der im Zentrum des Sturms stehen würde. Heilzauber könnten verhindern, dass die dunklen Flüche, die ihn treffen mochten, seine Kraft schwächten. Helle Segnungen würden den Schatten entgegentreten und ihre Wirkung abmildern. Und jene unter ihnen, die über unterstützende Magie verfügten, konnten ihm helfen, seine eigene Macht zu bündeln. Jeder Magier sollte sich auf jene Disziplin besinnen, die ihm am besten lag − und sei es, so hatte Mojalian angemerkt, dass die Lichtgeister lediglich für Ordnung sorgten.

Nun warteten sie. Warteten auf das Eintreffen der dunklen Macht.

Mojalian hatte seine großen Schwingen schützend um Lililja gelegt, ihre Nähe war ihm Trost in dieser Stunde des Wartens. Sein Geist war vor den anderen verschlossen, einzig Lililjas Gedanken durften noch zu ihm vordringen. Er klammerte sich an diese Verbindung, während seine gesamte Konzentration auf Ravgor gerichtet war.



Rafyndor sah ein, dass Lililja gerade mehr von Mojalian benötigt wurde, und hatte Skukius gebeten, ihm Gesellschaft zu leisten.

Rafyndor beobachtete sie aus dem Augenwinkel und verspürte ein leises Ziehen in seiner Brust. Wie gerne hätte er Lililja nun ebenfalls umarmt, ihre Wärme gespürt, die Gewissheit, dass sie noch da war. Doch er wusste, dass sie dort gebraucht wurde, wo sie war − bei Mojalian. Er würde das Hauptziel der Angriffe sein, und Lililjas Gegenwart war für ihn jetzt wichtiger als Rafyndors eigenes Verlangen, die Frau, die er liebte, an sich zu ziehen.

Stattdessen wandte er sich an Skukius, der sich auf seinen Unterarm setzte, während Rafyndors Finger sanft durch das weiche Rückengefieder des Vogels glitten. Die rhythmische Bewegung beruhigte ihn, und Skukius schien es ebenso zu genießen, als würde die sanfte Berührung auch seine eigenen Nerven besänftigen.

Demojon und Pranicara verharrten ebenfalls in stiller Zweisamkeit. Sie hielten einander fest, Stirn an Stirn, Herz an Herz, und lauschten dem ruhigen Atem des anderen − dem einen sicheren Takt inmitten eines nahenden Chaos. Wer wusste schon, ob es ihnen vergönnt sein würde, einander nach dem Kampf wieder in die Arme zu schließen?

Nanistra hatte ihren Arm unter jenen von Meister Lehakonos gehakt. Gemeinsam starrten sie in die Ferne, in jene Richtung, aus der das Unheil über sie hereinbrechen würde. Keiner sprach. Ihre Anspannung war ein stilles Band zwischen ihnen, unausgesprochene Gedanken, die sich wie Schatten über ihre Seelen legten.

Abseits der Gruppe hatte sich Jadoruc auf einen einsamen Felsenbrocken niedergelassen. Er beobachtete die anderen, die in stiller Verbundenheit beieinanderstanden − und konnte sich des Neides nicht erwehren. Neid auf jenen verfluchten Vykati-Jungen, der wenigstens jemanden hatte, der ihn liebte und den er lieben konnte.

In einem Moment wie diesem, musste Jadoruc sich eingestehen, spielte es keine Rolle, welchem magischen Volk der Partner entstammte. Liebe war Liebe, ob zwischen zwei Vykati oder zwischen der Hüterin des Lichts und dem Geisterwesen. Was zählte, war nicht das Blut, sondern die Tatsache, dass man jemanden hatte, dessen Nähe einem Halt gab. Jemanden, den man nicht verlieren wollte. Und Jadoruc hatte niemanden.



Jadoruc saß allein auf einem Felsen und beneidete alle, die jemanden an ihrer Seite hatten.

Er atmete tief aus, sein Blick trüb.

Saravabha tauchte vor seinem inneren Auge auf − die junge, wunderschöne Goblin-Frau, mit der er einst so eng zusammengearbeitet hatte. Diszipliniert, zurückhaltend, mit einer Stimme, die ihm stets ein beruhigendes Gefühl verliehen hatte. Er hatte Gefühle für sie entwickelt. Doch sie war eine Goblin. Und ein Vykati durfte sich nicht zu einer Goblin hingezogen fühlen.

Also hatte er die Zusammenarbeit beendet. Er hatte es nicht länger ertragen − nicht ihr Lächeln, nicht ihre Stimme, nicht die flüchtigen Berührungen, die ihn in Versuchung geführt hatten. Nicht die Qual der Zurückhaltung. Und doch hatte er gewusst, dass auch sie dasselbe empfand.

Er seufzte erneut, diesmal schwerer.

In diesem Moment, kurz vor der Schlacht, hätte er alles gegeben, um Saravabha an seiner Seite zu wissen. Um sie in seine Arme zu schließen, so wie jener verfluchte Vykati-Junge seine Seelenheilerin hielt.

Doch er war allein.

Und die Dunkelheit näherte sich.

Ein tiefes, hallendes Dröhnen zerriss die Stille der Lichtung. Die Worte, die ihm folgten, waren erfüllt von Bosheit und grausamer Freude: „Mojalian! Es wird mir ein Vergnügen sein, dich ein zweites Mal in Stücke zu reißen!“

Wie durch einen jähen Sturm erwachte die Lichtung aus ihrer Erstarrung. Die zuvor angespannte Reglosigkeit wich hektischer Bewegung, als die Zauberwesen sich auf das Unvermeidliche vorbereiteten.

Mojalian verharrte noch einen Moment in der Innigkeit eines letzten Kusses mit Lililja, dann löste er sich von ihr und glitt vorwärts − anders als im Kampf gegen Hadadust zögerte er nicht, sondern trat ohne Umschweife an die vorderste Linie. Während er schwebend voranschritt, wuchs sein Körper, dehnte sich, nahm jene gewaltige Gestalt an, die er zuvor bereits offenbart hatte.



Skukius flog auf einen Felsen, von wo aus er in die dunklen Flüche fliegen wollte, und Rafyndor ging hinter dem Felsen in Deckung.

Skukius stieß sich von Rafyndors Arm ab und ließ sich auf einem nahen Wuhruhudi-Felsen nieder. Von dort aus würde er sich in die Flugbahn der dunklen Flüche werfen, um sie abzufangen. Rafyndor selbst bezog Stellung hinter ebenjenem Felsen, die Hände bereit, um Mojalian mit Schutzmagie zu umgeben.

Auch Demojon und Pranicara trennten sich nach einem letzten, eindringlichen Kuss. Pranicara würde ihre Heilungsmagie wirken, während Demojon Mojalians Kräfte durch unterstützende Zauber verstärkte. Ebenso Meister Lehakonos und Nanistra − beide würden ihre Magie in den Kampf einfließen lassen. Und Jadoruc, Meister der dunklen Magie, machte sich bereit, helle Segen zu entfesseln, um die kommenden finsteren Flüche abzuschwächen.

Mojalian erreichte seine volle Größe, und mit donnernder Stimme erklang sein Ruf über die Lichtung: „Ravgor! Diesmal wirst du scheitern. Diesmal bin ich nicht allein!“

Ein schallendes, grausames Lachen antwortete ihm, hallte zwischen den Bäumen wider, vibrierte in der Luft wie eine schneidende Klinge. „Allein warst du auch beim letzten Mal nicht. Und dennoch hat es dich nicht gerettet. Als Riese warst du gekommen − als Wurm bist du davon gekrochen!“

Wieder brach sein höhnisches Lachen über die Lichtung, dröhnend, vernichtend.

Lass dich nicht verunsichern, mein Großer.

Lililjas Stimme, sanft und warm, erklang in Mojalians Geist, ein rettender Anker inmitten der drohenden Dunkelheit. Für einen Herzschlag ließ er sich in ihr Echo fallen, dann antwortete er Ravgor mit ruhiger, schneidender Schärfe: „Große Worte hattest du auch beim letzten Mal, Ravgor − und wozu haben sie dir genützt? Taranaharo hat von dir weniger übrig gelassen als von einer Milbe, so erzählt man sich.“

Diese Worte waren zu viel der Provokation.

Mit einem wilden Knurren ließ sich Ravgor blicken, trat aus dem Schatten des Waldes hervor und schleuderte die ersten Flüche auf Mojalian.

Die Blauschnäuzchen, sonst unerschütterlich, konnten die Zauber nicht erreichen − Ravgor stand zu weit entfernt.

Doch Skukius stürzte sich furchtlos in die Flugbahn und fing drei der Flüche ab. Sein Körper wurde heftig durchgeschleudert, doch er hielt stand.

Jadoruc und vierzehn weitere Magier entfesselten helle Segen, die sich den dunklen Zaubern entgegenwarfen. Doch nicht alle konnten neutralisiert werden.

Die finsteren Flüche schlugen in Mojalians Flügel, und mit einem Aufbäumen feuerte er sie zurück. Doch einige durchschlugen seinen Schutz und bohrten sich in seinen Körper, rissen tiefe Wunden, aus denen schimmernde Essenz hervorquoll.



Skukius flog in die Flugbahn der von Ravgor auf Mojalian abgeschossenen dunklen Flüche.

Rafyndor und einundzwanzig weitere Magier verstärkten ihre Schutzzauber, doch selbst ihre vereinte Kraft konnte nicht verhindern, dass einige der Angriffe durchdrangen.

Pranicara und acht weitere Heiler arbeiteten fieberhaft daran, Mojalians Schmerzen zu lindern, die funkelnden Bahnen seiner Essenz zu schließen, bevor er zu viel davon verlor.

Lililja fühlte jeden seiner Treffer in ihrer eigenen Seele. Ihr Herz krampfte sich zusammen, Tränen trübten ihren Blick. Warum nur konnte sie sich nicht konzentrieren? Die Lichtmagie, die in ihr ruhte, blieb gefangen, blockiert von unsichtbaren Fesseln.

Verzweifelt suchte sie nach der Quelle ihrer Ohnmacht − und entdeckte Hadadust.



Lililja beobachtete Hadadust, wie er mit Steinen nach den Blauschnäuzchen warf, die seine dunklen Flüche verhinderten.

Am Rand des Waldes stand er, seine Flüche zischten in die Dunkelheit, doch jedes Mal warfen sich die Blauschnäuzchen in den Weg, blockierten die Magie mit ihrem eigenen Leib. Vor Wut packte Hadadust Steine auf, schleuderte sie mit tödlicher Präzision. Drei der tapferen Wesen lagen bereits reglos am Boden.

Und doch, bei jedem neuen Fluch sprang ein weiteres Blauschnäuzchen herbei, mutig, unermüdlich.

Zumindest darum mussten sie sich nicht sorgen, dachte Lililja bitter. Doch sie betete, dass Hadadust die Tiere nur außer Gefecht setzte und nicht tödlich verletzte.

Mojalian wurde weiter zurückgedrängt.

Ravgors höhnisches Gelächter dröhnte über die Lichtung, hüllte alles in seine erdrückende Präsenz. Lililja biss die Zähne zusammen, versuchte, die Blockade in sich zu durchbrechen. Doch sie konnte es nicht!

Mojalian, es tut mir so unendlich leid…

Ihr Geist sandte diesen flehentlichen Ruf, während heiße Tränen über ihr Gesicht rannen. Warum, warum konnte sie sich nicht fokussieren?

Sie sah Mojalian wanken, sah, wie die Dunkelheit ihn bedrängte − und sie blieb machtlos!

Dann traf ein Fluch Skukius mit brutaler Wucht. Der tapfere Vogel taumelte, fiel zu Boden.

Rafyndor riss sich aus seiner Deckung, sprang hervor, um Skukius aus der Schussbahn zu retten − und in diesem Moment traf ihn ein dunkler Fluch.

Ohne ein Geräusch sank er zu Boden.

Reglos.

Wie tot.

Als Lililja Rafyndor reglos am Boden liegen sah, entrang sich ihrer Kehle ein verzweifelter Schrei − ein Laut, roh und voller Schmerz. Doch in diesem Schrei lag mehr als nur Trauer. Etwas erwachte in ihr, ein heiliger Zorn, urgewaltig und unaufhaltsam.

Und dann brach sie hervor.

Die Lichtmagie, die so lange in ihrem Inneren gefangen gewesen war, entlud sich mit einer Macht, die den Himmel selbst erzittern ließ. Eine Woge strahlender Energie fegte über die Lichtung, ließ das Amulett an Hadadusts Hals in tausend Splitter zerspringen. Die scharfkantigen Fragmente rissen tiefe Wunden in sein Gesicht, gruben sich in seine Hände. Ein Schrei des Schmerzes entrang sich seiner Kehle, doch Lililja nahm ihn nicht mehr wahr.

Sie war Licht.

Ein strahlendes, blendendes Wesen, zu hell für irdische Augen. Wer sie ansah, musste sich abwenden, als blickte er in die Sonne selbst.



Als Lililja Rafyndor am Boden liegen sah, erwachte in ihr ein heiliger Zorn, und die Lichtmagie brach endlich aus ihr heraus.

Lililja wollte zu Mojalian eilen, doch noch bevor ihre Füße den Boden berührten, erhob sie sich in die Lüfte. Sie wuchs − höher und höher, bis sie als gleißende Gestalt über der Lichtung schwebte. Ein Wesen reiner Energie, ein Stern am nächtlichen Himmel.

Dann traf Mojalian der nächste dunkle Fluch.

Lililja stürzte hinab − doch nicht, um auf dem Boden zu zerschellen. Stattdessen fiel sie auf Mojalian, und in dem Moment ihrer Berührung geschah das Unfassbare: Sie verschmolzen.

Das Licht und das Geisterwesen wurden eins.

Mojalian wandelte sich. Sein Leib dehnte sich, wurde zu einem gigantischen Wesen aus purem Licht. Die Wunden, die ihn gezeichnet hatten, schlossen sich augenblicklich, und eine neue, unerschütterliche Kraft durchströmte ihn. Die dunklen Flüche, die ihn zuvor getroffen hatten, prallten nun wirkungslos an ihm ab, wie Wellen an einer Klippe. Die Magie, die die Lichtung einst zu verschlingen drohte, wandelte sich − die Schatten verloschen, und aus Finsternis wurde Segen.

Einer dieser Segensstrahlen traf Skukius. Der Korvum-Rabe zuckte, setzte sich auf, schüttelte sich kurz und flog mit neuer Kraft auf einen Felsen.

Ein weiterer Lichtsegen senkte sich auf Rafyndor. Erst ein schwaches Luftholen − dann ein erster, tiefer Atemzug. Und schließlich, als ein weiterer Lichtfunke ihn berührte, schlug er die Augen auf.

Pranicara, die all die Zeit an Mojalians Seite gewacht hatte, rannte mit Tränen der Erleichterung zu ihm.

„Rafyndor!“, rief sie aus, ihre Stimme bebte. „Ich dachte, du seist tot!“

Der Waldgeist blinzelte, seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.

„Ja“, murmelte er, noch sichtlich benommen, „das dachte ich auch.“

Das Lichtwesen hatte sich inzwischen der Quelle der Bedrohung zugewandt.

Mächtig drängte es auf Ravgor ein. Der Unda Palata entfachte eine Salve dunkler Flüche und schleuderte sie auf sein gleißendes Gegenüber. Doch die Flüche prallten von der leuchtenden Gestalt ab wie Tropfen von poliertem Stein.

Und dann begann das Lichtwesen zu erwidern.



Das Lichtwesen drängte auf Ravgor ein und verwandelte sämtliche dunkle Flüche in helle Segen.

Mit jedem Blitz aus reiner Lichtmagie schrumpfte Ravgor. Seine mächtigen Hörner verkümmerten, sein einst gepanzerter Körper verlor seine finstere Pracht − und an seiner statt wuchs ein weiches, flauschiges Fell. Ein sanftes, harmloses Tier, bar jeder Bosheit. Das Höllenfeuer in seinem Inneren, das ihn so lange genährt hatte, war erloschen.

Hadadust, der mit Entsetzen Zeuge dieser Verwandlung wurde, begriff, dass der Kampf verloren war. Panik zerriss seine Züge. Er griff nach einem Amulett, murmelte eine hastige Beschwörung − und mit einem flackernden Licht verschwand er aus der Lichtung, zurück in die Berge seiner alten Heimat.

Doch das Lichtwesen ließ ihn nicht ungestraft entkommen.

Mit einer letzten, alles durchdringenden Welle aus heiliger Magie nahm es Hadadust und seinem dunklen Clan die Fähigkeit, jemals wieder Magie zu wirken. Was zurückblieb, war nicht mehr als ein Haufen verbitterter, nun unbedeutender und unmagischer Wesen.

Das Lichtwesen verharrte noch für einen Moment, prüfte mit all seiner erhabenen Macht, ob noch Dunkelheit in Vanavistaria lauerte. Doch es fand nichts mehr − die finsteren Magier waren besiegt, ihre Macht gebrochen.

Und so verließ das Licht schließlich Mojalians Gestalt.

Langsam schrumpfte er zurück auf seine gewohnte Größe, das Leuchten in ihm verblasste, bis nur noch seine übliche, sanfte Strahlkraft blieb. Lililja stand vor ihm, und in dem Moment, als sie wieder in ihrer normalen Gestalt als Elfe erschien, erlosch auch die letzte Spur ihrer Lichtmagie.

Mojalian wandte sich ihr zu, sein Blick voller Wärme. Na, da hast du dir aber Zeit gelassen! Sein Ton war sanft, liebevoll neckend.

Lililja senkte beschämt den Blick. „Es tut mir so unendlich leid, dass die Lichtmagie nicht eher erschienen ist…“

Doch Mojalian breitete seine Flügel aus, zog sie behutsam in seine Umarmung. Seine Stimme war ein sanftes Wispern in ihrem Geist. Das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist allein, dass sie erschienen ist.

Und dann küsste er sie − lang und innig, ein Kuss, der all die Worte ersetzte, die nicht mehr nötig waren.



Als das Lichtwesen sämtlichen dunklen Magiern die Magie genommen hatte, trennte sich das Licht vom Geisterwesen, und Mojalian und Lililja nahmen wieder ihre gewohnte Gestalt an.

Die Lichtung war erfüllt von ausgelassener Freude, ein Gefühl des Triumphes lag in der Luft.

Demojon, als er erkannt hatte, dass seine unterstützende Magie für Mojalian nicht länger vonnöten war, war zu Pranicara geeilt, hatte sie mit einem strahlenden Lächeln in seine Arme gezogen und innig geküsst. Erst danach wandte er sich dem noch immer leicht verwirrten Rafyndor zu, half ihm auf die Beine und führte ihn behutsam zu einem nahegelegenen Felsen, auf dem er sich setzen und Kraft schöpfen konnte.

Skukius ließ sich mit leuchtenden Augen auf Rafyndors Schulter nieder. Er war erschöpft, doch die Dunkelheit, die ihn umhüllt hatte, war verflogen, und seine Magie flammte wieder auf − heller und lebendiger als zuvor. Ohne zu zögern konzentrierte er seine Kraft auf Rafyndor, durchströmte ihn mit regenerierender Energie. Der Waldgeist atmete tief durch, und schon nach wenigen Augenblicken kehrte die volle Lebenskraft in ihn zurück.

Dankbar erhob er sich, sein Blick strahlte, als er erst Pranicara und dann Demojon fest in die Arme schloss. Sie hatten gesiegt. Sie alle.

Auch Meister Lehakonos und Nanistra feierten in inniger Umarmung, während Jadoruc mit zögernden Schritten auf die Gruppe um Demojon zutrat. Er legte dem jungen Vykati eine kräftige Hand auf die Schulter, sein sonst so ernster Blick wurde von einem warmen Lächeln erhellt.

„Das hast du gut gemacht.“

Demojon blinzelte überrascht. So oft hatte Jadoruc ihn mit kritischer Miene bedacht, hatte ihn mit Schweigen gestraft, mit Blicken, die nichts als Verachtung übrig hatten. Nun jedoch − Lob? Wirklich?

Ohne zu zögern drehte er sich zu Jadoruc um und umarmte ihn voller Freude.

Der ältere Vykati erstarrte für einen Moment, sichtlich überrumpelt von der plötzlichen Nähe. Dann aber schmolz seine Strenge dahin, und er tätschelte Demojons Rücken in einer fast väterlichen Geste.

„Na, na, na“, brummte er sanft. „Diese Umarmung solltest du lieber deiner Freundin zukommen lassen.“



Während der allgemeinen Jubelfeier, gesellten sich auch Jadoruc und Meister Lehakonos zusammen mit Nanistra zu Demojon, Pranicara und Rafyndor.

Ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht, als sein Blick kurz zu Pranicara wanderte. Doch er machte keinen Schritt zurück. Er blieb bei der Gruppe, ließ sich von der Euphorie des Sieges erfassen und teilte für diesen Moment ihre Freude.

Meister Lehakonos und Nanistra gesellten sich dazu, getrieben von der Sorge um Rafyndor. Als sie jedoch sahen, wie munter und voller Leben er war, wich ihre Anspannung.

Dann, plötzlich − ein gleißendes Licht flammte auf, und Mojalian erschien auf der Lichtung. Lililja an seiner Seite.

Kaum hatten die Anwesenden ihn erblickt, brandeten Jubel und Danksagungen auf ihn ein. Mojalian nahm jede einzelne mit stiller Geduld entgegen, verneigte sich vor jedem Wesen, das ihm geholfen hatte, und sprach jedem seinen Dank aus.

Mit einem Mal jedoch stockte er.

Ein unerwarteter Gedanke erreichte ihn, ein leiser, fast zögerlicher Ruf aus Jadorucs Geist.

Ich muss mich bei Euch entschuldigen, übermittelte Jadoruc. Ich habe Euch falsch eingeschätzt. Ihr hättet Euch für uns geopfert, wenn es notwendig gewesen wäre. Gut, dass die Lichtmagie noch rechtzeitig aus der Hüterin des Lichts hervorbrach und Euch retten konnte. Danke.

Mojalian lächelte.

Ich danke Euch, Meister Jadoruc. Trotz all Eurer Zweifel seid Ihr an meiner Seite geblieben, als es darauf ankam.

Jadoruc nickte stumm, sein Blick war sanfter geworden.

Lililja jedoch, kaum hatte sie Rafyndor erblickt, stürzte auf ihn zu, warf sich ihm entgegen und schlang ihre Arme um ihn. Ihr Körper bebte, Tränen strömten über ihr Gesicht.

„Du lebst!“, hauchte sie, ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. „Du lebst!“

Rafyndor, der im ersten Moment von ihrer stürmischen Umarmung überwältigt war, fasste sich rasch und erwiderte ihre Geste mit ungeahnter Innigkeit. Sanft drückte er seine Lippen auf ihr Haar, sog ihren vertrauten Duft ein und schmiegte seine Stirn an ihre.

Dann glitt ein Schatten über die Lichtung − nicht aus Dunkelheit, sondern aus Licht. Mojalian war näher geschwebt, seine leuchtenden Augen ruhten sanft auf den beiden.

Seine Stimme erklang in den Köpfen aller, die bei Rafyndor standen, klar und ruhig.

Ich war mir so sicher, begann er, dass die Lichtmagie aus Lililja hervorbrechen würde, wenn sie mich in Gefahr sieht. Doch das reichte nicht aus. Erst als du fielst, Rafyndor, gab es für sie kein Zurück mehr. Tja − da habe ich mich wohl geirrt.



Mojalian erklärte Rafyndor, dass dieser der Auslöser für das Herausbrechen der Lichtmagie aus Lililja war.

Sein Blick ruhte einen Moment lang auf dem Waldgeist, dann fuhr er leise fort: Dabei hätte ich es ahnen können. Ich wusste immer, dass du den größeren Platz in ihrem Herzen hast.

Stille breitete sich aus.

Rafyndor starrte ihn an, als müsse er die Worte erst begreifen. Langsam sickerte die Bedeutung zu ihm durch.

Lililjas Lichtmagie war nicht wegen Mojalian entfesselt worden. Nicht, weil sie für ihn kämpfen wollte. Sondern wegen ihm. Wegen Rafyndor!

Er hatte die Blockade des Amuletts durchbrochen. Er war der Grund gewesen, dass sie ihre wahre Kraft entfesselt hatte.

Ein Prickeln breitete sich in ihm aus, ein seltsames, bittersüßes Gefühl.

Er wusste, dass Lililja ihn nie auf die Weise lieben würde, wie er es sich einst erträumt hatte. Mojalian würde immer an ihrer Seite sein.

Aber das spielte keine Rolle. Sie liebte ihn.

Nicht so, wie er vielleicht gehofft hatte − aber genug, um das Licht in sich zu entfesseln, als sie ihn fallen sah. Genug, um ihn niemals wirklich zu verlassen.

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Rafyndors Gesicht aus. Er zog Lililja noch einmal sanft an sich, strich mit seinen Fingern über ihre Wange und flüsterte leise: „Du bist und bleibst meine Lililja.“

Dann küsste er zärtlich ihr Haar, ließ die Worte zwischen ihnen erstrahlen wie das Licht eines neuen Morgens.



Jetzt wusste Rafyndor, dass Lililja ihn nie
verlassen würde, auch wenn sie ihn niemals
so lieben würde, wie er es sich wünschte.

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